5.6.16

Die telefonische Mordsberatung

Der Krimi-Code… 

Gute Krimis, schlechte Krimis…

 

Das Krimi-Kompetenzteam: R. Jahn, Th. Hackenberg, I. Müller-Münch, U. Noller
Foto: WDR, mit frdl Genehmigung
Psycho-, Regio-, Rätsel-, Sozio-, Polit – und Katzenkrimi, das alles kann ein Krimi sein.
Wo liegen die Grenzen der Genres? Was kann und darf der Spannungs-Fan von einem guten Krimi erwarten?

Relevante politische Themen, soziales Bewusstsein, kritische gesellschaftliche Analyse? Oder einfach nur gute Unterhaltung mit einem faszinierenden Ermittler, einer Serienkiller-Geschichte, einem knallharten Polizeiroman oder einem sanften Urlaubskrimi?
Chief-Inspector Thomas Hackenberg stellt dem Kompetenzteam der Mordsberatung die ultimative Krimi-Frage: Was ist, kann, darf, soll ein Kriminalroman sein? Er erwartet von Ulrich Noller (KrimiZEIT-Bestenliste), Reinhard Jahn (Bochumer Krimiarchiv) und der Journalistin Ingrid Müller Münch präzise Auskünfte, belastbare Beweise und vor allem persönliche Bestenlisten. Und natürlich beantworten die Experten auch Fragen aus dem Publikum.

Die Aufzeichnung der Sendung fand am 9. Juni 2016 in der Stadtbibliothek Oberhausen-Sterkrade.
statt 
Ausstrahlung der Sendung: 25. Juni 2016, 21.05 Uhr auf WDR 5

Factsheet Der Krimi-Code

 

Was ist ein guter Krimi? 

 

Erster Versuch
Was macht einen guten Krimi aus?

Ein guter Kriminalroman muss
-Diskursrelevanz
und
-ästhetisches Format
haben und
-sich des Genres bewusst sein.

Was heißt das?
Das heißt: Der Krimi muss eine "relevante Geschichte" oder ein gesellschaftliches oder politisch oder sozial relevantes Thema haben. Also aktuell zum Beispiel: zunehmende Überwachung der Bürger durch Geheimdienste, den Kampf gegen den Terror. Beginnende soziale Konflikte (wie etwa in Frankreich) . Drogenkartelle, Korruption, Manipulation etc.

Tobias Gohlis: Die Welt infrage stellen, gewohnte Sichtweisen, literarisch Klischees genannt, auseinandernehmen - wer das tut, schreibt gute Kriminalromane.
Quelle: http://www.boersenverein.de/183603/

Er muss zudem:
gut geschrieben sein, also seine literarischen Mittel bewusst  und der Story angemessen einsetzen. Er muss sprachlich einfach herausragend sein. Er muss, insgesamt gesehen, die seiner Story angemessene literarische Ausdrucksform gefunden haben.

Er muss außerdem…
die Regeln des Krimigenres befolgen. Er muss sich bewusst sein, in welcher Tradition er steht und wie er diese weiterentwickeln möchte. Er muss wissen, in welcher Form er auf die Wirklichkeit zugreift. Denn Kriminalromane sind realistische Romane.
Tobias Gohlis: Die allerbesten Kriminalromane tun, was anderer Literatur oft auch nur knapp gelingt: Sie packen unsere Wirklichkeit, die sowieso nicht zu verstehen ist, am Wickel. Sie nehmen sie aufs Korn.
Moment –
- muss ein guter Krimi eigentlich nicht einfach nur gut unterhalten?

Genau. Aber wenn er die obigen Kriterien erfüllt, unterhält er auch.
(Sagen diejenigen, die diese Kriterien aufgestellt haben)

Die besten guten Kriminalromane der letzten zehn Jahre sind:
  • Don Winslow:  Tage der Toten
  • Richard Price: Die Unantastbaren
  • Sara Gran: Stadt der Toten
  • David Peace: Tokio Jahr Null
  • Petros Markaris: Live!
  • James Sallis: Drive
  • James Ellroy: Perfidia

Zu den nicht so guten Kriminalromane der letzten Jahre gehört
Der Regiokrimi
ist die Bad Bank der deutschen Kriminalliteratur. Hier wird der Gestaltungsdrang williger Amateurschriftsteller in örtlich begrenzten Auflagen entsorgt, und dem Nachbarschaftsinteresse wird Genüge getan.
(Tobias Gohlis)
Quelle:
http://www.boersenblatt.net/artikel-gastspiel_von_tobias_gohlis_ueber_regionalkrimis.625436.html


Zweiter Versuch:
Was macht einen guten Kriminalroman aus?

Es gibt keine guten Krimis, sondern nur seriöse  und unseriöse Krimis
Kritiker unterscheiden mitunter zwischen "seriösen Kriminalromanen" und "den anderen", vulgo den "unseriösen" Krimis.

Ein seriöser Kriminalroman muss
-eine spannende Geschichte haben
-(mindestens) eine interessante Ermittlerfigur haben
-von (mindestens) einem raffinierten Mordfall erzählen
-interessante Figuren und ein interessantes setting haben
-sich als Spannungs- und/oder Rätselspiel von hohem Unterhaltungswert präsentieren.

Und ein unseriöser Krimi?
Unter unseriösen Krimis versteht man die die seriell erzeugten Genrestücke, die ihre Existenz nur den ökonomischen Ambitionen der Verlags/Buchhandelsbranche verdanken.
Marketingtechnisch gesprochen "Me too"-Krimis, zur Massenware geklonte Bestsellererfolge.
Motto: Wenn Verlag A mit einem Leberwurstkrimi so erfolgreich ist, dann machen wir bei Verlag B auch sofort einen Leberwurstkrimi. Und zwar möglichst mit einem ähnlichen Coverbild.
Krimi-Klone ("unseriöse Krimis") entwickeln das Genre weder inhaltlich noch formal weiter. Sie sind Krimi gewordenen Stagnation.

Die Referenz des "normalen" deutschen Krimis ist derzeit der Regionalkrimi (meist für touristische Gebiete) und der Psycho-Thriller, bzw der Cliffhanger-Roman (Fitzek, Winkelmann, Dorn, etc). Im Fernsehen ist es der "Tatort/Polizeiruf".
Das sind die Geschichten mit der größten Publikumsakzeptanz, die in einer Form erzählt werden, die eine größtmögliche Publikumsakzeptanz hat..

Seriöse deutsche Krimis schreiben zum Beispiel:
  • Max Annas
  • Zoë Beck
  • Friedrich Ani
  • Frank Göhre
  • Merle Kröger
  • Oliver Bottini
  • Simone Buchholz

Dritter Versuch:
Was ist denn nun ein guter Krimi
Nur ein nicht verkaufter Kriminalroman ist ein guter Kriminalroman

Dieser Versuch korrespondiert direkt mit der These des Vierten Versuchs (siehe unten) –
Ausgehend von der Annahme, dass "Krimi" per se nichts Gutes sein kann, also etwas schlechtes ist, und dass er umso schlechter ist, je erfolgreicher er ist, wird der Schluss gezogen:
Ist ein Krimi kommerziell nicht erfolgreich, ist er nicht schlecht. Also gut.
Von daher sind nicht verkaufte Krimis die guten Krimis und verkaufte Krimis die schlechten.

Vierter Versuch:
Was ist ein guter Kriminalroman?

Jeder Kriminalroman, den ich gerne lese und der mir gefällt, ist ein guter Kriminalroman.

"Qualität", also das "Gute" am Krimi,  wird hier strikt aus der Rezipientensicht definiert. Jeder Krimileser hat im Rahmen seiner Erschließung des Genres seine eigenen Fixpunkte, Referenzen, Vorlieben und Abneigungen entwickelt.
Das heißt etwa, er mag eher Rätselgeschichten mit Amateurermittlern, schätzt aber Großstadtgeschichten über das organisierte Verbrechen nicht so sehr. Er mag eher geradeheraus konventionell erzählte Geschichten und er mag keine formalen Experimente. Oder anders herum.
Die Krimimaschine, bestehend aus Autoren und Verlagen, liefert für zahlreiche "Nischen" geeignete Krimis.
Jan Seghers (Autor): "Mehr noch als in der avancierten Literatur scheint die Beurteilung eines Kriminalromans eine Frage persönlicher Vorlieben, des Temperaments, des Geschmacks und nicht zuletzt des Zeitgeistes zu sein. Objektivierbar ist offenbar fast nichts."
Quelle: http://www.janseghers.de/index.php?s=antifaschist

Letzter Versuch:
Also was ist denn nun ein guter Krimi?

Es gibt keine guten Krimis, weil Kriminalromane generell Schmutz und Schund sind.

Der Kriminalroman hat seine mächtigste Wurzel im Schmutz und Schund – nämlich den Geister- und Schauergeschichten des viktorianischen Englands und der Gerichtsberichten des Pitaval und anderer Chroniken.
Kriminalgeschichten erschienen stets in Massenmedien, massenhaft verbreiteten Magazinen und Zeitschriften – wie etwa die Sherlock Holmes Geschichten von Conan Doyle in dem Magazin "The Strand"
In den USA wuchsen die Krimis aus den Pulp-Magazinen mit ihren Crime-Stories (Kurzgeschichten, Kurzromane). Später war das Paperback, bzw das Mass Market Paperback die Heimat des Krimis (legendär die "Gold Medal"-Buchreihe in den USA)
Und Agatha Christie, die Queen of Crime, veröffentlichte stets in Zeitschriften (als Fortsetzungsroman). Und sie schrieb für das Massenmedium der Vor-Fernsehzeit: Die Bühne ("The Mousetrap")

Krimi in dieser Form ist nie als "Literatur" wahrgenommen worden, die Liebhaber der "hohen Literatur" schauten vielmehr auf diese billigen Unterhaltungsgeschichten herab. Man nannte es – etwa im Adenauer-Deutschland "Schmutz und Schund"
Zitat aus einem Beitrag der ZEIT im Jahr 1963:
»Bei uns ist der Kriminalroman eher Unkraut am Rande der Schönen Literatur. Leute, die sich von Amtes wegen mit Schmutz und Schund beschäftigen, warnen in schöner Regelmäßigkeit vor der „Leitbildlosigkeit und krassen Effekthascherei gerade dieser Art Unterhaltungsliteratur".«
Quelle: http://www.zeit.de/1963/33/kriminalroman-gestern-und-heute

Zudem ist der Krimi ein Genre, also eine "kastrierte" Literaturgattung, die sich in Form und besonders Inhalt den Genreregeln zu unterwerfen hat.  Das widerspricht der Auffassung, dass Literatur generell frei von allen Beschränkungen zu sein hat / sein sollte.

Die "literarischen Krimis" die man mitunter dem "Schmutz und Schund" gegenüberstellte (Dürrenmatt etwa) reklamierten meist, sie würden "mit dem Genre spielen", dessen "Grenzen aufsprengen" wollen oder mit der Qualität ihrer Sprache das Licht der Kunst in die Gosse des Krimis bringen. Kurz gesagt: von der richtigen Literatur wurde der Krimi nie ernst genommen.


Von daher hat unser Schlusskalauer vollkommen recht:
"Ein Krimi ist erst richtig gut, wenn er richtig schlecht ist!"


Trotzdem ein paar Listen  mit guten Krimis

Die besten Krimis des Jahres 2015 aus der Sicht der KrimiZEIT-Bestenliste:
  • 1 Merle Kröger: Havarie
  • 2 Friedrich Ani: Der namenlose Tag
  • 3 Fred Vargas: Das barmherzige Fallbeil
Alle hier:
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2015-12/krimizeit-bestenliste-2015

Die 199 besten Krimis aller Zeiten
(ermittelt 1990 von einer Autoren/Kritiker/Buchhändler-Jury im Auftrag des Bochumer Krimi-Archivs)
  • Platz 1  JAMES M. CAIN: Wenn der Postmann zweimal klingelt
  • Platz 2  RAYMOND CHANDLER: Der lange Abschied
  • Platz 3  RAYMOND CHANDLER: Der tiefe Schlaf
  •  DASHIELL HAMMETT: Der Malteser Falke
  • Platz 4  ERIC AMBLER: Die Maske des Dimitrios
  •  FRIEDRICH GLAUSER: Wachtmeister Studer
  •  DASHIELL HAMMETT: Der dünne Mann
  • Platz 5  JOHN LE CARRE: Der Spion, der aus der Kälte kam
  • Platz 6  ARTHUR CONAN DOYLE: Der Hund der Baskervilles
  • DASHIELL HAMMETT: Der gläserne Schlüssel
Die ganze Liste hier:
http://www.krimilexikon.de/dkp/die119.html

Die definitiv besten Krimis aller Zeiten,
kumuliert aus diversen Listen der besten Krimis aller Zeiten

  • -Chandler, Raymond  Der lange Abschied  The Long Goodbye  1953  USA
  • -Hammett, Dashiell  Der Malteser Falke  The Maltese Falcon  1930  USA
  • -Chandler, Raymond  Der große Schlaf;  The Big Sleep  1939  USA
  • -Cain, James M.  Wenn der Postmann zweimal klingelt;  The Postman… 1934  USA
  • -Ambler, Eric  Die Maske des Dimitrios  The Mask of Dimitrios  1939  GB
  • -Highsmith, Patricia  Der talentierte Mr. Ripley;  The Talented Mr. Ripley  1955  USA
  • -Doyle, Arthur Conan  Der Hund der Baskervilles; The Hound of the Baskervil  1901  GB
  • Eco, Umberto  Der Name der Rose  Il nome della rosa  1980  I
Die ganze Liste
http://www.lesekost.de/kanon/HHL04KU.htm


Ende des factsheets