19.3.14

Von Edgar Allan Poe bis zum TATORT


Von Edgar Allan Poe bis zum TATORT
Vortrag
Von Reinhard Jahn

Das Gute kann nur durch das Böse existieren - und im Krimi kann der Detektiv nur durch den Täter - in der Regel ein Mörder - existieren. Mehr noch: Ohne den Täter gabe es keine Berechtigung für den Detektiv. Ohne Mörder keinen Mord, ohne Mord keine Aufklärung.
Der erste Ermittler, die erste Mordaufklärung liegen mehr als 170 Jahre zurück – im Jahr 1841 erschien die "erste Kriminalgeschichte" - Der Doppelmord in der Rue Morgue (The Murders in the Rue Morgue) von Edgar Allan Poe.
Es geht um einen Doppelmord an zwei Frauen im ersten Stock eines Hauses in der Pariser Rue Morgue – das Verbrechen fand in einem verschlossenen Raum statt, so dass sich die Frage stellt, wie der Täter herein – und vor allem: wieder herausgekommen ist.
Der "Ermittler" in diesem Fall heißt Auguste Dupin, er ist offenbar ein wohlhabender Nichtstuer, der mit einem Freund in einer Villa in Paris lebt und von der Mordtat durch  die Berichte in den Zeitungen erfährt.
Erzählt wird die Geschichte von ebendiesem Freund, mit dem er zusammen wohnt, er fungiert als Berichterstatter des Auguste Dupin, er fasst auch für den Leser alle Berichte, Untersuchungsergebnisse und Zeugenaussagen zusammen – und ist am Ende entsprechend überrascht, wenn Dupin seine Lösung des Mordfalles präsentiert. Diese Lösung hat Dupin mittels der "Deduktion" – also der logischen Interpretation und Verknüpfung der vorliegenden Fakten  -  gefunden.

Wir sehen - schon in der ersten Detektivgeschichte ist das Muster aller weiteren Detektivgeschichten angelegt: Eine geheimnisvolle Mordtat, ein Ermittler, der die Fakten betrachtet und Indizien sammelt – und ein Berichterstatter, der zwischen uns, dem Leser, und dem Genie des Detektivs vermittelt.
Was der ersten Detektivgeschichte noch fehlt, ist der Bösewicht – der Täter, der Gegner des Detektivs. Wer die Lösung des Falles vom "Doppelmord in der Rue Morgue" kennt, wird wissen, was gemeint ist. Der Täter ist ein entsprungener Orang Utan, ein Tier also, das durch eine Reihe zufälliger Ereignisse zum "Doppelmörder" wurde.
Der Gedanke, dass ein guter Detektiv und eine gute Detektivgeschichte einen echten und guten Bösewicht benötigen, also einen Menschen, der in negativer Hinsicht ebenso genial planen kann wie unser Detektiv analysieren kann – diesen Gedanken hatte knapp 40 Jahre nach Edgar Allen Poe (1887) schließlich ein Londoner Arzt, der außer dem berühmtesten Detektiv aller Zeiten – Sherlock Holmes – auch einen der bekanntesten Bösewichter erfand:
Professor Moriarty,
der von Sherlock Holmes der "Napoleon des Verbrechens" genannt wird. Moriarty war dem Meisterdetektiv aus der Baker Street intellektuell ebenbürtig, verstand das Verbrechen als Kunstwerk und nicht selten auch als Herausforderung an seinen Gegner. Die Sherlock Holmes natürlich gern annahm.
Der Täter - das Böse – ist im Krimi das zerstörerische Element, gegen das der Detektiv - der Gute - mit ordnender Hand antritt, indem er klärt und erklärt, das unentdeckte entdeckt und die Ordnung wieder herstellt, die vor dem Verbrechen herrschte.
Beziehungsweise der Ordnung (oder dem Recht) zur Geltung verhilft - indem er den Täter überführt und dem Rechtssystem zuführt.

Bei der klassischen Detektiverzählung - auch gern Rätselkrimi oder Häkelkrimi genannt - verfolgen wir den Ermittler bei seiner Arbeit und erfahren erst am Ende die Identität des Täters. Unsere Identifikation mit dem Helden ist groß, wir teilen seine moralischen Werte und seine Abneigung gegen das Verbrechen. Wir wollen genau wie er: Klarheit, Wahrheit, Gerechtigkeit.
Wir kennen sie alle, die Helden und Heldinnen aus dem "goldenen Zeitalter" des Krimis, den zwanziger und dreißiger Jahren in Großbritannien: Hercule Poirot und Miss Marple, erdacht von Agatha Christie, Lord Peter Wimsey, erdacht von Dorothy Sayers – und die vielen Nachahmer. Was immer gleich blieb in den Romanen des "Golden Age" war die Struktur der Geschichte: Die Tat (der Mord, das Geheimnis) – die Ermittlung – die Auflösung.
***
Aber was ist, wenn die Geschichte andersherum aufgezogen wird? Wenn wir als Leser auf der Seite des Verbrechers (des Nonkonformisten, des Regelverletzers) stehen? Dann haben wird es - technisch gesehen, zunächst einmal mit einer "inverted story" zu tun, einem Krimi mit umgedrehten Vorzeichen; ein Roman, der zunächst die Tat und den Täter schildert und dann die Versuche des Detektives verfolgt, die Tat aufzuklären und den Täter zu überführen.
Da erfahren wir also von Anfang an (und nicht erst retrospektiv) etwas über Entstehung und Motivation eines Verbrechens, und es geschieht zwangsläufig etwas, was ein klassischer Rätselkrimi vermeidet: dass wir im folgenden Duell zwischen Täter und Ermittler wahrscheinlich eine deutliche Empathie mit dem Täter entwickeln, dem wir es vielleicht sogar gönnen würden, ungeschoren davonzukommen. Aber selbstverständlich passiert das bei der klassischen umgedrehten Krimigeschichte nicht - die inverted story ist und bleibt ebenfalls nur ein Spannungs- und Rätselspiel.
Als einer der ersten spielte dieses umgekehrte Spiel Francis Iles mit seinem Roman  Before the fact (dt: Vor der Tat) im Jahr 1932. Iles war fest in der britischen Tradition des Goldenen Zeitalters mit seinen Landhaus- und Rätselkrimis verwurzelt, als er dann plötzlich die klassische Erzählung ganz anders präsentierte: von der Seite zwar nicht des Mörders, aber des Opfers:
Die wohlhabende Lina McLaidlaw verliebt sich in den charmanten, aber abgebrannten Johnnie Aysgarth, sie heiraten und Lina übersieht - will die nächsten zehn Jahre übersehen - dass ihr Gatte ein Gauner, Dieb, Ehebrecher und womöglich auch ein Mörder ist. Sie erlebt sogar, wie Johnnie sich mit einer befreundeten Krimi-Autorin über die tödliche Wirkung bestimmter Gifte unterhält -  und trinkt später das Glas, das Johnnie ihr reicht, leer und stirbt.
Nach heutigen Begriffen würden wir Johnny Aysgarth einen durchschnittlichten Soziopathen nennen:  egoistisch, selbstverliebt, unfähig zur Empathie - also der negative Held par excellence.
(Wem die Geschichte jetzt irgendwie bekannt vorkommt: Ja, der Roman wurde von Alfred Hitchcock als "Suspicion" (Verdacht) verfilmt, freilich mit einem anderen, positiven Schluss.)

Francis Iles ging mit seinen Experimenten sogar noch einen Schritt weiter - er schrieb Malice aforethought (Dt: Vorsätzlich). Gleich der erste Satz gibt die Richtung an: Dies ist ein ganz anderer Krimi:
"Erst mehrere Wochen, nachdem er sich entschlossen hatte, seine Frau zu ermorden, machte Dr. Bickleigh die ersten Schritte in dieser Richtung. Mord ist schließlich eine ernste Angelegenheit." - Francis Iles, Vorsätzlich (1931),

Das klingt heute wie der Anfang eines COLUMBO-Films - und nichts anderes ist ja auch das Prinzip der COLUMBO-Filme: Die Schilderung der möglichst ausgefeilten Tat mit dem folgenden intellektuellen Duell zwischen dem Täter und dem nur scheinbar trotteligen Trenchcoat-Inspektor. Die inverted story ist inzwischen zum festen Bestandteil des Genres geworden.

Zeitgleich mit den Versuchen von Francis Iles und seinen Zeitgenossen in Großbritannien macht das Böse zugleich auf der anderen Seite des Atlantiks einen weiteren Schritt ins Zentrum des Krimis. Und zwar in Person eines Kleinkriminellen, der es bis an die Spitze des organissierten Verbrechens schafft:
Rico Bandello, genannt "Little Ceasar" – der "kleine Cäsar" - legt in dem gleichnamigen Roman von W.R. Burnett (1929) eine typisch amerikanische selfmade-man-Karriere als Gangster hin, bis ihn am Ende die Polizeikugeln durchsieben. Eine Karriere genau wie Tony Camonte, genannt "Scarface" im Film vom 1932, der auf einem Roman von Armitage Tail basiert.

Diese Gangstergeschichten waren etwas ganz anderes als die eher akademischen  Mordgeschichten der britischen Landhausschule. Little Ceasar und Scarface bezogen ihre Vorlagen aus der Realität der roaring twenties in den USA  - die Geschichte von Scarface Tony Camonte ist mehr oder weniger frei der Karriere von Al Capone nachempfunden, jenes Großgangsters, der in den 20er und 30-Jahren die Unterwelt Chicagos kontrollierte und nach den Prinzipen modernen Managements organisierte (weshalb er am Ende konsequenterweise auch nicht wegen seiner Gewaltverbrechen verurteilt wurde, sondern wegen Steuerhinterziehung).

Mit der Gangster-Biographie kommt zugleich die action ins Genre (oder sie kommt zurück, denn die klassischen Vorläufer wie etwa "Die Geheimnisse von Paris" von Eugene Sue und andere Feuilletonromane waren ja bereits voller Aktion gewesen).
Zugleich verschränkte das Gangster-Bio-Pic den britischen Krimi mit dem amerikanischsten aller Genres: dem Western. Aus ihm übernimmt er die Figur des Helden, der bestehen muss - vor sich selbst und vor den anderen. In diesem Sinne sind diese "neuen Krimis" auch Entwicklungsromane, die den Weg ihres Helden zeigen. Diese Dynamik unterscheidet die amerikanischen Krimis deutlich von den statischen britischen Stories - es gibt bei Agatha Christie keine tiefgreifende Entwicklung ihrer beiden Figuren Miss Marple und Hercule Poirot, und lediglich Dorothy Sayers hat ihren Helden Lord Peter Wimsey mit ihrer Schilderung seiner Beziehung zu Harriet Vane so etwas wie "ein Leben" eingehaucht.

In der erneuten Verschränkung der "Inverted Story" mit der neuen Spielart des Entwicklungsromans betritt dann 25 Jahre später eine gänzlich neue Figur die Szene - "Der talentierte Mister Ripley" (1955) von Patricia Highsmith ist einer der ersten Mörder (im klassischen Sinn), die nicht gefasst und der Gerechtigkeit überantwortet werden - und die offenbar aus rein hedonistischen Motiven töten.
Wiederum ein negativer Held par excellence.
Dieser Tom Ripley ist ein "amoralischer hedonistischer Krimineller", heißt es, der gleich zu Anfang den etwas dümmlichen amerikanischen Millionär Dickie Greenleaf umbringt, um dessen Identität (und dessen Vermögen) zu übernehmen. Aber man kann die Geschichte auch anders, nämlich psychologisch lesen - als den verzweifelten Versuch des entwurzelten, latent homosexuellen Tom Ripley, eins mit seiner großen Liebe Dickie zu werden, indem er ganz und gar er wird.

Ein illegitimer Bruder dieses  Tom Ripley ist in gewisser Weise eine andere Ikone des Krimis (oder sagen wir: des Thrillers): James Bond - der Agent 007 Ihrer Majestät ist ein Hybrid. Als Repräsentant des Guten (eben "seiner Majestät") ist er ermächtigt (von eben dieser Majestät), zu töten, sich mithin außerhalb des kodifzierten Rechtssystems zu bewegen. Bond ist mit seiner Sex- und Spiel-Sucht (andere fügen noch Alkoholsucht hinzu) ebenso hedonistisch veranlagt wie Tom Ripley und wird moralisch nur ein klein wenig mehr vom Bösen seines Tuns berührt als Ripley. Bond ist ein Kind des Krieges, und zwar nicht nur das Kalten Krieges, sondern des gerade zu Ende gegangenen zweiten Weltkrieges: nicht zufällig war er als Commander des Royal Navy ein Soldat - und als solcher eingebunden in ein System von Befehl und Gehorsam, das eine Reflexion über die Richtigkeit des eigenen Tuns nicht unbedingt fordert.
Nach seinem Wechsel in den Geheimdienst Ihrer Majestät (der er ja schon als Soldat diente) hat sich diese Struktur nicht geändert: sein Vorgesetzter M ist sein Befehlshaber und auch der einzige, dem er Rechenschaft schuldig ist. Was für Bond aus der Innensicht vollkommen logisch und gerechtfertigt erscheint - als Soldat zu arbeiten und zu töten - erscheint aus er Außensicht freilich moralisch zumindest fragwürdig. Gerechtfertigt werden kann hier Bonds Arbeit nur durch ein "höheres Ziel", seinen Einsatz gegen das "Böse", wobei damit gemeint ist, dass das BÖSE noch böser ist als Bond - die Agneten von SMERSH etwa, oder seine übermächtig und übermäßig durchgeknallten Gegner wie Sir Hugo Drax oder Auric Goldfinger.
Das "Böse" an ihnen ist meist, das sie sich eben keinem höheren Ziel unterworfen haben, sondern eben nur dem übertriebenen Individualismus oder der reinen Geld- bzw Machtgier frönen.

Was James Bond im globalen Maßstab leistet, das besorgen die zahllosen amerikanischen Privatschnüffler im kleinen auf den Straßen von Chicago oder San Francisco, in Los Angeles und New York. Dabei sind aber Philip Marlowe und Sam Spade nicht wirklich böse. Sie mögen nur manchmal den Anschein erwekcne, werden von ihren Autoren – Raymond Chandler und Dashiell Hammett – aber als einsamer Ritter gezeichnet, der gegen das Verbrechen antritt.
Marlowe und Co operieren allein, nur schwach durch ihre Freunde bei der Polizei an die Ordnungsmacht angebunden - und sie machen sich auch nicht gemein mit ihrem Gegner, dem Mob und seinen Mobstern.


Mit Raymond Chandler und Dashiell Hammett, aber auch Mit Mickey Spillane und Peter Cheyney und all den anderen hardboiled ("hartgesottenen") Autoren befinden wir uns inzwischen – historisch gesehen in der Nachkriegszeit.
Der 2. Weltkrieg ist beendet, Deutschland hat kapituliert und wurde von den Alliierten in Besatzungszonen aufgeteilt. Wie sieht es also mit dem Krimi im Deutschland zu dieser Zeit aus…

In der Zeit davor – also der Nationalsozialismus – habe es keine Krimis gegeben – so wurde jedenfalls lange Zeit behauptet. Das ist aber nicht richtig – es hat vor 1945 in Deutschland durchaus Krimis und Kriminalromane gegeben, Landhausgeschichten und Agentenromane, Action-Abenteuer und psychologische Geschichten.
Kriminalromane gehörten ebenso zur Unterhaltungsliteratur der Weimarer Zeit wie der Liebes-Roman, der Gesellschaftsroman, der Abenteuerroman und der "Sitten-Roman" (vulgo: der softcore Porno). Sogar Zukunftsromane gab es.
Weil wir aber diesen Abschnitt hier nun keinesfalls vertiefen wollen, schließen wir ihn auch gleich ab - mit Verweis auf Buchreihen  wie den "Aufwärts-Kriminalroman", die "Bären-Bücher" und andere Krimi-Reihen, die in jener Zeit publiziert wurden, aber auch auf die zahlreichen Fortsetzungsromane, die in Tages-Zeitungen erschienen und eine große Leserschaft fanden - quasi als die daily soap des Vor-Fernseh-Zeitalters.
Das mit den Fortsetzungsromanen müssen wir uns jetzt einmal merken.
Wozu, das wird später klar werden.
Ein wunderbares Werk, das diese Literaturszene der Weimarer Zeit beschreibt ist:
Martin Keune : Groschenroman: Das aufregende Leben des Erfolgsschriftstellers Axel Rudolph 
Die Geschichte eines Bochumer Bergmanns, Hochstapler und Gelegenheitsgauners, der zu einem der erfolgreichsten Unterhaltungs-Schriftsteller der Weimarer Zeit wurde.

Also, wie fing das alles wieder an, nach dem Krieg?
Deutschland war in die Besatzungszonen aufgeteilt, von denen sich die "Alliierten" bald zusammenschlossen, während die russischen Besatzer Wert auf ihre eigen Zone legten. Aus ihr wurde später die DDR - mit einer ganz eigenen Sorte von Kriminalliteratur.

In der Tri-Zone - beziehungsweise TRI-ZONESIEN, wie es ein Karnevalsschlager jener Zeit formulierte - waren die Medien, also auch das Verlagswesen, der Kontrolle der Besatzungsmächte unterworfen.

Neu gegründete Zeitungen und Zeitschriften mussten sich lizenzieren lassen, beziehungsweise lizenziert werden. Genau wie Rundfunkanstalten - und Verlage - standen sie unter der Aufsicht der Kulturoffiziere der Besatzungsmächte. Einer von ihnen war etwa der Journalist Hugh Carleton-Greene - der in der britischen Zone den NWDR mit aufbaute – aus dem später der NDR und der WDR hervorgingen. Er war der Bruder britischen Autors Graham Greene, der unter anderem die Vorlage zu dem Nachkriegs-Filmklassiker "Der dritte Mann" schrieb.
Andere Kulturoffiziere, die maßgeblich an der "Re-Education" der Deutschen arbeiteten, hatte ähnliche berufliche Hintergründe - sei es als Journalisten, als Werbe- oder PR-Leute oder Verlagsangestellte. Sie sorgten in dieser Zeit - und später, als sie sich zum Teil in Deutschland niedergelassen hatten - für einen ständige Strom von Übersetzungen US-amerikanischer (Unterhaltungs-)Literatur - darunter nicht unwesentlich viele Kriminalromane.
Als Kulturoffiziere genehmigten sie die Veröffentlichung solcher US-Unterhaltungsware, später wurden nicht wenige von ihnen Literatur-Agenten und zogen hinter den Kulissen die Strippen um Autoren wie
Erle Stanley Gardner ("Perry Mason"),
Raymond Chandler,
Dashiell Hammett,
aber auch James Hadley Chase,
Peter Cheyney und
Mickey Spillane
auf den deutschen Markt zu bringen.

Und die deutsche Kriminalliteratur, wo fand die statt? Und woher kam sie? Krimi bezieht seine Geschichten in der Regel immer auf die aktuelle Zeit - und die hatte sich in Deutschland ja gerade radikal gewandelt und wandelte sich noch immer, so dass man nur die allerwenigsten Romane aus der Weimarer Zeit wiederveröffentlichen konnte. Abgesehen davon, dass die Schauplätze fast alle zerbombt waren und sich Polizei und Justiz erst wieder im Aufbau befanden, konnte man sich auch bei der (früheren) ideologischen Position des Autors nie ganz sicher sein.
Gut, es mussten also neue Krimis geschrieben werden. Weil Krimi stets populär ist, auf ein Massen-Publikum zielt, fand die deutsche Kriminalliteratur der Nachkriegszeit dementsprechend in den Massenmedien statt - will sagen: im Radio und in der Presse.

Wir bewegen uns jetzt so in der Mitte bis Ende der sechziger Jahre, also fast am Ende des Wiederaufbaus. Es gibt zwei deutsche Staaten, die Aussicht auf eine Wiedervereinigung ist absolut illusorisch.
Die Hochliteratur wird bestimmt von den Autoren der Gruppe 47, es sind Namen wie Heinrich Böll, Martin Walser, Günter Grass und andere. Eins ihrer Themen: die deutsche Vergangenheit.
Im Krimi sind es andere Namen, die die Szene beherrschen:
Rolf und Alexandra Becker,
Hugo Maria Kritz,
Michael Horbach,
auch Johannes Mario Simmel
und Heinz G. Konsalik
gehören dazu.
Und natürlich Marie Luise Fischer.
Sie schrieben entweder für den Hörfunk (wie R. und A. Becker, eines der großartigsten und erfolgreichsten Teams), oder sie arbeiteten für Illustrierte.
Illustrierte - das muss man hier vielleicht erklären, waren DAS Massen- und Unterhaltungsmedium der sechziger und siebziger Jahre. Sie sind kaum zu vergleichen mit den heutigen "Magazinen" oder "Klatschblättern" - eine Illustrierte war in der Regel zwar spezialisiert (auf Mode, Frauen oder das Fernsehprogramm), aber sie war als Familienunterhaltung ausgelegt, als "Musikdampfer", wie es der große Illustrierten-Chef und "Erfinder" des Stern  Henri Nannen einmal nannte.
Die Illustrierten mit ihren großen "Tatsachenserien" ("Deutschland deine Sternchen") und ihren "Fortsetzungsromanen" war DAS Forum für den Kriminalroman jener Jahre.
Es waren zum größten Teil journalistisch vorgebildete - und vorbelastete Autoren, die die erfolgreichsten Romane für Blätter wie KRISTALL, CONSTANZE, BUNTE (ja, die gab es damals schon), die HÖR ZU oder die REVUE verfassten.

Ein Fortsetzungsroman in einer Illustrierten war ähnlich "konzipiert" wie eine daily soap, er wurde groß inszeniert (mit großen Illustrationen), und nicht selten wurde er so "gestückelt", dass die Abonnenten darüber vergaßen, ihr Abo zu kündigen.
(Als "Vater" des modernen Fortsetzungsromane gilt Eduard Rhein, langjähriger Chef der HÖR ZU, der als erster auf die Idee kam, den Fortsetzungsroman eigens für das Blatt schreiben zu lassen, und das nicht notwendigerweise von einem Autor allein. Als "Hans Ulrich Horster" schrieb, bzw inszenierte er selbst einige der erfolgreichsten HÖR ZU-Romane – wie etwa "Suchkind 312")

Nur als Beispiel, wie die Fortsetzungsromane "inszeniert" wurden einige Kopien aus der BRAVO.
Nicht selten wurden die Romane dann noch als Taschenbücher nachgedruckt, andere Romane - besonders die des "späten" Heinz G. Konsalik entstanden bereits in einer Art Medienverbund zwischen Zeitschriftenredaktion und Buchverlag.
Dass diese Krimis im heutigen Bewusstsein gar nicht als Väter und Mütter unserer Gattung wahrgenommen werden, liegt daran, dass sie den "Krimi"-Aspekt in der Regel immer um einem "Drama"-Aspekt erweiterten. Heute würde man sagen, es waren "Liebes-Krimis" oder "Chick-Lit-Krimis" oder "Schicksals-Krimis" oder ähnliches. Überhaupt war der Begriff "Krimi" seinerzeit dem "britischen" Krimi vorbehalten, dem Landhaus- und Edgar Wallace-Krimi, auf den sich die "Mimi" aus dem Schlager so wunderbar reimte.

Statt "Krimi" nannte man es selbst gern "Zeit-Roman", weil dort Themen der Zeit aufgegriffen wurden. In diesem Zusammenhang waren die Geschichten und Stoffe sicher mitunter nicht weit vom heutigen Nachmittagsfernsehen entfernt. Und genau wie dort war die "Kriminalgeschichte" die Form, in der die aus der Aktualität der Zeit gegriffenen Stoffe erzählt wurden.
Beispiele sind  etwa das "Mischlingsmädchen Billie", ein Fortsetzungsroman aus der PRALINE 1971, in dem das Thema der "Mischlingskinder", will sagen: der Besatzungskinder in Deutschland thematisiert wurde. Ein anderer Autor - Michael Horbach - fasste das Thema ähnlich spekulativ an – mit seinem Roman  "Gottes zweite Garnitur."
Vergessen wir auch nicht, dass die großen Bucherfolge von J.M. Simmel – wie etwa ES MUSS NICHT IMMER KAVIAR SEIN - zuerst als Fortsetzungsgeschichte in der QUICK erschienen sind, bei der Simmel mitarbeitete.
Ein Beispiel für einen außerordentlichen "Sensationsroman" jener Zeit ist: DR LESIUS DER TEUFEL von "Michael Donrath" alias Michal HORBACH, ein großes Kolportageabenteuer das er für die BUNTE ILLUSTRIERTE

Die Autoren dieser Romane waren oft nach einer kurzen journalistischen Vorkriegskarriere dann "im Felde" gewesen und hatten nach Kriegsende wieder als Journalist zu arbeiten begonnen. Fast typisch, dass sich in den Bibliographien dieser Autoren immer mindestens ein Kriegsroman findet, in dem sie ihre Erfahrung verarbeitet haben (der bekannteste wurde später "Steiner - Das Eiserne Kreuz" von Will Berthold.)
Zu dieser Generation zählte auch Heinz G. Konsalik, der - wie man weiß – neben "Der Arzt von Stalingrad" noch andere Kriegsromane geschrieben hat, aber eben auch Krimis - bzw eher Thriller -  unter anderen als Fortsetzungsromane.

Weibliche Autoren: MARIE LUISE FISCHER  / ALEXANDRA CORDES etc

Der andere Bereich in dem Krimi sich in der Bundesrepublik entwickelte, war der Rundfunk - dort war Krimi freilich bis Ende der siebziger angelsächsisch geprägt - nicht nur, weil des Kriminalhörspiel der BBC - aus dessen Fundus man sich bediente - eine große und großartige Tradition hatte, sondern natürlich auch, weil die deutschen  Rundfunkanstalten unter britischer Lizenz und Leitung neu aufgebaut wurden.
Hier muss natürlich jetzt ein Name wie Francis Durbridge fallen, der vor seinen Fernseh-Straßenfeger im Rundfunk mit seinen mehrteiligen Serials (um den Kriminalschriftsteller Paul Temple) großen Erfolg hatte.
Und die deutsche Autoren?
Erst später stellte sich heraus, dass sich hinter "Malcolm F. Browne", der für den NWDR das Serial "Gestatten mein Name ist Cox" geschrieben hatte, eine eher komödiantisch angelegte Kriminalstory mit dem Untertitel "Ein Spaßvogel im Kampf gegen die Unterwelt",  - dass sich hinter diesem ur-britischem Autorennamen das deutsche Autorenpaar Rolf und Alexandra Becker verbarg, die mit ihrem "Cox" einen Riesen-Erfolg haben sollten - der bis hin zu einer Fernsehserie und einem Kinofilm reichte.

(Die Legende geht wenigstens so, das Rolf Becker sich den Namen eines britischen Onkels borgte, um sein erstes Cox-Manuskript beim NWDR an den Mann zu bringen.)

Wenn man sieht, dass etwa die Frankfurter Autorin Lieselotte Appel ihre Kriminalromane unter dem englisch klingenden Namen "L.A. Fortride" veröffentlichte, ist man fast geneigt, der Geschichte zu glauben. Wobei bei Lieselotte Appel alias L.A. Fortride durch das Pseudonym auch noch vorborgen wurde, das es sich um eine Frau handelte. Denn – so die gängige Meinung in den sechzigern: Deutsche konnten keine Krimis, und deutsche Frauen schon gar nicht.
Hier passt auch gut die Geschichte von Irene Rodrian hinein, die sich mit zwei Manuskripten beim Wettbewerb um den Edgar Wallace Preis beteiligte und mit dem einen gewann – "Tod auf St Pauli" - aber man ihr nur die Hälfte des Preisgeldes zahlen wollte, weil sie eben eine Frau war. Das andere Manuskript, das sie eingereicht hatte, wurde abgelehnt, weil es hieß: "Das ist so gut, das kann keine Frau geschrieben haben."

Wie sind jetzt schon heftig in den siebziger, und des gibt  den sogenannten "neuen deutschen Krimi" - der jetzt auch neben den Illustrierten-Romanen als Buchveröffentlichung zu existieren beginnt. Als Bücher waren bis dahin in der Regel Krimis unter eben dieser Bezeichnung als Taschenbücher und das auch noch in einheitlich aufgemachten "Reihen" erschienen.
Das hieß: drei Goldmann Krimis pro Monat, drei gelbe Ullstein-Krimis pro Monat und zwei oder drei Heyne-Krimis. Dazu die Serie der "Mitternachtsbücher" aus dem Desch-Verlag und natürlich - seit Ende der sechziger, die rororo-thriller. Schwarzes Cover, anfangs noch auf gelbes Papier gedruckt, herausgegeben von einem Lektor, der sich anders als seine Kollegen bei Ullstein und Goldmann nicht als Traditionalist verstand, sondern als Innovator: Richard K. Flesch.

Er sorgte für den ersten Schwedenkrimi-Boom in Deutschland, indem er die stilbildenden zehn Martin Beck-Romane von Maj Sjöwall und Per Wahlöö übersetzen ließ. Durch ihren realistsichen und sozialkritsichen Ansatz kam eine Generation deutscher Autoren zu Wort, die ausdrücklich von Flesch gefordert und gefördert wurden:
Die Schwarze Bande von Rowohlt, bestehend aus
-Horst Bosetzy,
-Micheal Molsner,
-Irene Rodrian,
-Hansjörg Martin,
-Friedhelm Werremeier und teilweise
-Thomas Andresen.
Einesteils waren auch diese Autoren journalistisch vorbelastet - sie stammten aus der Generation, die den oben beschriebenen Stars wie Will Berthold, Rolf Palm oder Michael Horbach folgte.
Mike Molsner - Journalist,
Friedhelm Werremeier ebenfalls Journalist  -  eine Mischung aus Gisela Friedrichsen und Peter Scholl-Latour für den Bereich Kriminalitäts- und Gerichtsberichterstattung.
Andere hatten - wie Hansjörg Martin oder Irene Rodrian - mal Kontakt zur Werbung, zum Zirkus oder zum Theater und zum Fernsehen gehabt, waren also "Unterhaltungsprofis".

Und als Solitär unter ihnen Horst Bosetzky (alias -ky) - ein Soziologie-Professor aus Berlin -  der wegen seines Berufs ganz klar für die Begriffsprägung "Soziokrimi" verantwortlich ist, die später fast zum Schimpfwort für eine bestimmte Gattung politisch ambitionierter, aber erzählerisch unterirdischer Kriminalromane wurde.
Hansjörg Martin war eher der Gentleman in der Schwarzen Bande, der Vertreter des zeitgemäßen Unterhaltungsschriftstellers in der Runde. Seine Romane BEI WESTWIND HÖRT MAN KEINEN SCHUSS und EINER FEHLT BEIM KURKONZERT erzielten neben der Buchveröffentlichung als rororo-thriller ihren Durchbruch beim Publikum als - genau: Fortsetzungsroman, (im Stern)

Im STERN und anderen Zeitschriften - der BUNTEN, der HÖR ZU, oder QUICK schrieb damals auch einer, der zwar nicht zur Schwarzen Bande gehörte, aber ebenfalls zu den prägenden Autoren des deutschen Nachkriegskrimis zählt: ein gewisser Michael Preute, geboren in Duisburg. Gelernter Journalist (Tagdszeitung, Illustrierte, dann Korrespondent und Krisen-Reporter). Preute schrieb Fortsetzungsromane im "Zeitroman"-Stil, aber auch Sachbücher wie etwa "MORD SCHMITT" über einen Kriminalisten seiner Zeit und "ernsthafte" Kriminalromane wie MAGNETFELD DES BÖSEN.

Zu seinem großen Erfolg kam Michael Preute freilich erst Jahre später, als er aus dem Reporterjob ausgestiegen war, sich selbst trockengelegt hatte und sich in einem Eifelörtchen namens Berndorf niederließ, nach dem er sich fortan benannte: Jacques Berndorf. Er schrieb seine ersten Siggi Baumeister-Krimis, die noch bei Bastei-Lübbe erschienen, und in denen Siggi Baumeister noch ein fitter, fixer Politjournalist in Bonn ist und kein grauhaariger Teilzeitdetektiv in der Eifel.
Ein anderer Journalist dieser Zeit kämpfte auch gegen die Droge - nicht Alkohol, sondern Heroin - und bereicherte den deutschen Krimi um einige seiner besten Werke: Jörg Fauser (Jahrgang 1944), eigentlich Literat mit journalistischer Ader, schrieb nach diversen Drogenbüchern seine Krimis DER SCHNEEMANN, ROHSTOFF und SCHLANGENMAUL, die nur allzu gern wegen ihrer absoluten "unpolitischen", also "individualistischen" Haltung gegen den Sozio-Krimi ausgespielt wurden.

Die Romane des Sozio-Krimis werden oft als Ausdruck der Studentenrevolte, als Teil des außerparlamentarischen Aufbegehrens ihrer Zeit gesehen, aus dem sich dann auch der politische Terrorismus der RAF entwickelte. Im Sinne von "Zeitromanen" mag das wohl stimmen - dass es Romane waren, die ihre Stoffe aus ihrer Zeit bezogen (ähnlich wie das "Mischlingsmädchen Billie" in den sechzigern)
Zeitgemäß, beziehungsweise Zeitbezogen waren - nach dem Sozio-Krimi - dann auf einmal die Frauenkrimis - auch sie als Reflex auf den um sich greifenden Feminismus und die Emanzipationsdebatte.

Genauer gesagt war der Feminismus bzw. die Gleichberechtigung der Frau inzwischen auch im Krimi angekommen eben weil der Krimi eben realistisch ist und die Zeit abbildet.
Nicht,  dass es vorher keine krimischreibenden Frauen gegeben hätte, das haben wir ja schon gesehen. Auch in den Siebzigern tummelten sich schon mehr als Marie Luise Fischer und Alexandra Cordes: Fanny Morweiser mit ihren subtilen und subversiven Spannungsromanen (Suspense), Lydia Tews ganz traditionell mit Kommissarin, Helga Riedel mit Psychothrillern. Doch in den Achtzigern wurden die Frauen schlagartig mehr. Das liegt einerseits daran, daß aus den USA die taffen Privatdetektivinnen zu uns kamen und neue Vorbilder für Frauenfiguren lieferten, andererseits auch an der vermehrten Präsenz des Krimis überhaupt. Frauen begannen, von ihren Lebenswelten zu erzählen, und als die ersten gedruckt waren, dachten sich die Leserinnen: Das kann ich auch ... Mitte der Achtziger haben wir Doris Gercke mit ihrer Bella Block, die ihren Polizeidienst schnell hinwirft und privat weiter ermittelt, Christine Grän mit der Journalistin Anna Marx.
Zu nenen ist ganz besonders Pieke Biermann mit ihrer unkonventionellen Kommissarin Karin Lietze – und  die Dortmunderin Sabine Deitmer mit ihren Storys von Frauen, die erlittene Ungerechtigkeit aktiv beheben ("Bye-bye Bruno").
Es gab auch die Bochumerin Corinna Kawaters mit einer Krimiparodie, in der nur Frauen auftraten. Anfang der 1990er vervielfachen sich die Reihen der Autorinnen: Thea Dorn, Uta-Maria Heim und aus Österreich Edith Kneifl, Regula Venske, Ingrid Noll, Susanne Mischke, Gabriele Wolff, Petra Hammesfahr und als erste deutschsprachige lesbische Autorin Kim Engels. Danach boomt der Frauenkrimi derart, dass in einer Umkehrung der Geschichte plötzlich männliche Autoren anfingen, unter weiblichen Pseudonymen zu schreiben - Robert Brack als Virginia Doyle - , weil sie sich davon mehr Umsatz erhofften.

Auch in der DDR startete der Krimi Ende der 1940er als Zeitschriften-Fortsetzungsroman und als Heftroman, etwa die Reihe „Blaulicht“ (nach der TV-Serie). Auch hier waren zuerst Autoren tätig, die bereits vor 1945 veröffentlicht hatten. Natürlich mußte ideologisch vorgegangen werden, denn im Sozialismus durfte es ja eigentlich kein Verbrechen geben - und so waren denn auch die meisten Verbrecher aus dem Westen oder ideologisch nicht eingestimmt, und auf die ostdeutsche Polizei fiel natürlich keinerlei Schatten.

ENDE