24.2.14

Einblick, Heft 5/1997
Großstadtchronisten - Die Kriminalromane von H.P. Karr und Walter Wehner


Großstadtchronisten
Die Kriminalromane von H.P. Karr und Walter Wehner
Von Ulrich Noller

Der Bahnhofsvorplatz einer Großstadt im Ruhrgebiet. Hinter der Würstchenbude verdienen Hütchenspieler ihr tägliches Brot. Bei den Abfallcontainern kippen Arbeitslose Hansa-Pils, direkt dahinter beginnt der Drogenstrich.
Straßenkinder, Schnorrer, Obdachlose - keine besonders freundliche Gegend. Und gerade deswegen ist Gonzo Gonschorek mit seiner Videokamera hier genau an der richtigen Stelle: Gonzo ist freier Kameramann, ein sogenannter Videogeier.

Die gemeinsame Arbeit der Schriftsteller H.P. Karr und Walter Wehner ist eine Erfolgsgeschichte mit schleppendem Anfang. 1986 lernten sich die bei den bei einem Literaturwettbewerb kennen. Spontan beschlossen sie, sich in Teamwork zu versuchen - und blieben bis heute aneinander kleben. Sie schrieben Hörspiele, die gesendet wurden, und Kurzgeschichten, die gedruckt wurden - aber der Durchbruch zur großen Erzählung ließ auf sich warten.  Zwei Romane blieben im Versuchsstadium stecken: jahrelang fahndeten die Autoren nach dem Konzept, das zunächst ein· mal sie selbst, aber auch Verlage und Leser überzeugen könnte. Dann trat Gonzo Gonschorek in ihr Leben.

Mit dem Kombi fährt er durch die Stadt und hört den Polizeifunk ab. Wenn ein Brand, ein Unfall, ein Verbrechen gemeldet wird, ist er schnell zur Stelle, um die Regionalfenster von Fernsehsendern mit blutigen Bildern zu versorgen. Gonzos journalistisches Ethos, so H.P. Karr, sei bestenfalls mittelprächtig. "Das Leben schreibt nicht die besten Geschichten und manchmal muss man ein bisschen nachhelfen. Solange es der Sache dient. Das entscheidet er dann von Fall zu Fall."
Mit seinem Job ist Gonschorek zufrieden, zumindest dann, wenn er gerade einmal genug verdient. Ist das nicht der Fa]]. verdingt er sich auch stunden- und tageweise. "Das geht bis hin zur Billig-Porno-Produktion im Sommerloch", sagt Walter Wehner. Gonschorek ist nicht gerade das Paradebeispiel eines vorbildhaften Freiberuflers, und privat ist er nicht weniger Ekel als im Beruf. Freundschaften pflegt er nur dann, wenn sie gelegentlich einen Tipp einbringen. Beziehungen übersteht er allerhöchstens bis zur Zigarette danach. Und Freundlichkeit ist ihm dermaßen fremd, dass man sich wundert, wie es überhaupt jemand länger als nötig bei ihm aushalten kann.
"Er ist nicht unbedingt der Typ, mit dem man sechs Wochen Urlaub in Kanada machen würde", kommentiert Walter Wehner.

Unter Videogeiern

Wer die Idee hatte, einen Videogeier als Krimihelden zu wählen, wissen die Autoren heute nicht mehr. Sie sehen Gonzo als Gemeinschaftsprodukt. Wehner: "Wir wollten keinen Detektiv oder Journalisten, aber trotzdem eine Figur, die überall sein kann, ohne dass man das begründen muss." Das Wagnis, von einem unfreundlichen Negativhelden mit menschlichen Schwächen zu erzählen, nahmen sie bewusst in Kauf. "Das ist gerade das Interessante", meint H.P. Karr. "Irgendein Muster nachzuschreiben, das es bereits gibt, ist bei weitem nicht so spannend wie das Abseitige und Neue." .
Der erste Gonzo-Roman erschien 1994, und jetzt, nach acht Jahren, kam die' Karriere des Krimiduos erst richtig in Gang. Für "Geierfrühling" ernteten sie hervorragende Kritiken und "Rattensommer", der Nachfolgeband gewann 1996 den wichtigsten Preis deutschsprachiger Krimischriftstel1er, den "Glauser".
Das Risiko, das die beiden mit Gonzo Gonschorek eingegangen waren, hatte sich ausgezahlt. Angesichts solcher Erfolge konnten Karr & Wehner bei ihrem neuestem Revierabenteuer "Hühnerherbst" um so entspannter zu Werke gehen. Skurrilen One-Night-Stands, allzu dollen Schlägereien und den fiesen Gesellen von der Russenmafia geht Gonzo Gonschorek diesmal aus dem Weg. Er ist Mitte 40; Wodka. Tiefkühlpizzas und durchzechte Nächte fordern ihren Tribut. Sentimentalität wäre zu viel gesagt, aber vielleicht braucht er ein wenig Zeit, um über sich nachzudenken. Und wenn er die Chefin vom Kaufhaus-Sicherheitsdienst trifft - ist da nicht ein kleines Flirren in der Luft? Sollte der lonesome rider auf seine alten Tage etwa doch noch beziehungsfähig werden?

H.P. Karr, der eigentlich Reinhard Jahn heißt, hat früher als Journalist, Ghostwriter und Ratekrimitexter gearbeitet; Walter Wehner ist promovierter Germanist, als Studienleiter bei der VHS Essen angestellt und eigentlich Lyriker. Zwei freundliche Männer um die 40, deren sarkastische Gelassenheit nur eines stören kann -  wenn man ihre Romane als "Regionalkrimis" bezeichnet. Zu oft wurden solche Bezeichnungen abwertend benutzt.
"Für regionale Literatur, die auch nur regionale Bedeutung hat. Gut gemeint, aber letztendlich Heimatliteratur."
Karr & Wehner sehen sich dagegen als Chronisten modernen Großstadtlebens. Gonzo Gonschorek als klassischen urbanen Workoholic. Dass ihre Großstadtgeschichten, im Ruhrgebiet angesiedelt sind, habe nur einen Grund: "Wir schreiben über das Revier, weil wir uns hier auskennen. Wir wollen sehen, was in diesem Ballungsraum zwischen Duisburg und Dortmund passiert."
"Sehen", das ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen. Die tägliche Recherche besteht für das Autorenduo darin, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Wehner: "So findet man die Geschichten, die eine ganze Region kennzeichnen."
Erst wenn sie die Story fest  umrissen im Kopf haben, beginnt auch das konkrete Nachfragen. "Einmal wollten wir etwas über Bunker herausfinden. Also habe ich den entsprechenden Kollegen in der Stadtverwaltung besucht. Der legte die Akte auf den Tisch - und musste plötzlich zur Toilette. Zufällig dauerte das an diesem Tag etwas länger - und hinterher wussten wir, was wir über Bunker wissen wollten. Außerdem gibt es Bekannte bei der Polizei und den Fernsehsendern, die bestätigen, dass man etwas richtig gemacht hat·- oder nicht. Und manchmal ist man ziemlich überrascht - man hat etwas erfunden, das es schon gibt. Etwa diese Pommesbude im Stadthafen. Als wir vor Ort nachrecherchiert haben, stand da genau die Pommesbude, die wir erdacht hatten. Im nachhinein ist das natürlich klar: Stadthafen, Arbeiter, Pommesbude. Insofern erfindet man gar nicht so viel, sondern beschreibt, was sein könnte."

Stadthafen, Arbeiter, Pommesbude.

Karr & Wehner sind ein eingespieltes Team, eine festgelegte Aufgabenteilung gibt es nicht. Sie treffen sich einmal pro Woche, gehen spazieren und später zum Essen. "Wir schreiben nie etwas auf. Wir reden nur. Wenn wir eine Idee nach einer Woche nicht vergessen haben - dann ist an der Story was dran." Einer von bei den beginnt mit dem Schreiben, anschließend wandert der Text so lange hin und her, bis die Schlussredaktion fällig ist. "Das ist einer der Gründe für unsere Teamarbeit: Man hält sich nicht nur die Stange, sondern lektoriert sich gegenseitig", so Walter Wehner.
"Das verkürzt den Schreibprozess gewaltig", fügt H.P. Karr hinzu. "Und das zu kürzen, was der andere geschrieben hat, fällt natürlich viel leichter."
Zu Meinungsverschiedenheiten kommt es dabei nur selten. "Es gibt schon mal ein Nachfragen, aber darauf folgt meistens eine Begründung, die auf Stoff und Handlung fußt." Außerdem gäbe es ja während des Schreibens sowieso nur noch Kleinigkeiten zu besprechen, meint Walter Wehner. "Wir haben ja den großen Plan der Erzählung schon vorher."
Neun Monate dauert es insgesamt, bis auf diese Art und Weise ein Roman entstanden ist.
Karr: "Wir brauchen ein halbes Jahr zum Vorbereiten und drei Monate zum Schreiben."
Wehner: "Wenn wir nicht mehr wissen, in der wievielten Korrektur wir gerade sind, ist das ein Zeichen, dass es langsam hinhaut."
Karr: "Wenn das Chaos einsetzt... "
Wehner: "…dann wissen wir, es hat geklappt."
Karr: "Und richtig fertig ist ein Roman, wenn mir die aktuelle Datei im Computer abstürzt, nachdem ich gerade 20 Seiten korrigiert habe. Das war bis jetzt immer so."



Ulrich Noller:
Großstadtchronisten - Die Kriminalromane von H.P. Karr und Walter Wehner
In: Einblick, Köln Heft 5/1997 (Mai)

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
 


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