17.9.11

T R U E S T O R I E S - erzählen wir Geschichten

Reinhard Jahn:
T R U E   S T O R I E S
(1998)

Gut, erzählen wir Geschichten

Lagerfeuergeschichten, Klatschgeschichten, Gruselgeschichten. Und wenn uns keine neuen Geschichten einfallen, erzählen wir einfach die alten Geschichten neu.
Machen wir aus der ANTIGONE ein Primetime-TV-Movie: "Schicksalsstunden einer Königstochter"
Und aus der MEDEA: "Wenn Mütter töten"

Gestaltet nach Tatsachen, nur Namen und Orte wurden verändert, um Unbeteiligte zu schützen.
Geschichten fesseln, weil sie von Menschen erzählen; sie fesseln, weil sie wirklich und tatsächlich scheinen.
Wenn wir Geschichten erzählen wollen, müssen wir uns fragen: Kann das geschehen? Sind diese Entwicklungen und jene Entscheidungen durch unsere Erfahrungen gedeckt?
Haben wir vielleicht Beispiele, bei denen es so oder so ähnlich gewesen ist?
Geschichten haben aber auch noch mehr: sie paraphrasieren einen Zustand, erzählen auch von Träumen, Wünschen oder Ängsten. Sie erzählen davon, wie ein Mann allein gegen eine Terroristentruppe antritt, die ein Hochhaus besetzt hat - und sie am Ende besiegt.
Sie erzählen von einem Roboter, der aus der Zukunft kommt, um seinen zukünftigen Gegner zu töten - und dabei erkennt, daß er damit seine eigene Existenz aufs Spiel setzt.
Geschichten erzählen, wie es uns im Augenblick geht.

Geschichten werden uns in der multimedialen Welt überall erzählt - nicht nur im klassischen Buch als Roman, als Erzählung, als Shortstory. Sie werden uns in Zeitungen und Zeitschriften erzählt: als Reportage, als Klatsch und Tratsch aus adeligen Häusern, als Homestory oder als Portrait. Der Rundfunk erzählt uns Geschichten nicht nur im Hörspiel, sondern auch in seinen journalistischen Sparten: dem Feature, der Reportage und dem Live-Bericht.
Geschichten werden auf CD-Roms erzählt, als Abenteuerspiele über kleine Klempner mit knubbeligen Nasen oder Raumschiffkommandanten, die schwierige Missionen zu erfüllen haben.
Geschichten werden uns im Kino erzählt, große und kleine Geschichten zum Lachen oder Weinen, so sentimental, daß wir unsere Taschentücher zücken oder so spannend, daß wir auf der Kante unseres Kinositzes herumrutschen.

Und natürlich werden Geschichten vom größten Geschichtenerzähler aller Zeiten erzählt: dem Fernsehen. Das Fernsehen erzählt Geschichten, indem es teilweise so tut, als ließe es die Menschen ihre Geschichten selbst erzählen: als Gäste bei Hans Meiser, Ilona oder Fliege, die als Hohepriester der Geschichtenmaschine das Gespräch am virtuellen Lagerfeuer zelebrieren.

Und auch die Journalisten im Fernsehen erzählen uns Geschichten. Geschichten, die EXPLOSIV sind, BRISANT oder TAFF. Es sind Geschichten von Reisenden, die aus fernen Ländern zurückkehren und uns von unglaublichen, sensationellen, nie dagewesenen Vorfällen berichten. Es sind Moritaten, die uns von Menschen berichten, die ungewöhnliche Dinge getan haben, die seltene Krankheiten haben, mit denen sie leben oder die gewöhnliche Krankheiten haben, an denen sie sterben. Als elektronischer Bänkelsänger bringt uns das Fernsehen Geschichten zuhauf ins Haus, große und kleine, traurige und lustige; Geschichten, die uns berühren oder mit Abscheu erfüllen, aber immer Geschichten, die uns nicht gleichgültig lassen.

Die Welt ist also voller Geschichten - Geschichten sind eine Handelsware, die verkauft, verwertet, archiviert und weiterverarbeitet wird. Auf diesen Punkt wird im zweiten Teil dieses Vortrages noch einzugehen sein: wie und auf welchen virtuellen Marktplätzen die Geschichten unserer Zeit gehandelt werden.

Aber zunächst zurück zu den Geschichten, die uns interessieren, die uns anrühren und uns in Spannung versetzen.
Zu den Geschichten die von je her die meisten von uns interessieren, gehören Kriminalgeschichten. Kriminalgeschichten handeln von Mord und Totschlag, vom Bösen in der Welt und wie es (meist) vom Guten besiegt wird. Es gibt sie in hundert- tausend- millionenfacher Zubereitung und Aufmachung in allen Medien. Sie kommen als Zeitungsnachricht oder Prozeßbericht daher, sie gehören zum festen Repertoire der Fernseh-Boulevardmagazine und sie sind seit den Ritter- und Schauerromanen, seit den gothic novels und den Kolportageromanen aus der Anfangszeit des Zeitungswesen nicht mehr aus unserem alltäglichen Geschichtenumfeld wegzudenken.

Ich schreibe seit knapp 20 Jahren Kriminalgeschichten, große und kleine, als Zeitungs und Zeitschriftenstory, als Hörspiel und als Roman. Ich schreibe sie teilweise allein und teilweise gemeinsam mit einem Co-Autor oder einer Co-Autorin. Wenn es jetzt im folgenden darum geht, wie Krimis geschrieben werden, dann sollte alles, was über die Entstehung dieser Geschichten gesagt wird, als Werkstattbericht verstanden werden, als persönliche Erfahrung, die vielleicht nicht immer zu verallgemeinern ist.

Krimis sind Genregeschichten, genau wie Western- oder Zukunftsgeschichten. Genres haben Regeln und Grenzen, Genres entwickeln Sub-Genres - Spielarten von kürzerer oder längerer Halbwertszeit - und Genres leben von einer engen Beziehung zwischen den Autoren und ihren Lesern. Die großen Markierungspunkte des Krimi-Genres sind Autoren wie Edgar Allen Poe, Agatha Christie und die anderen der "klassischen englischen Schule", und schließlich Raymond Chandler und Dashiell Hammett. Marksteine der letzten Jahrzehnte wurden von Georges Simenon, Eric Ambler, Ed McBain, Patricia Highsmith, Andrew Vachss und James Ellroy gesetzt.
Daß in dieser Aufzählung, in der natürlich viele andere Namen fehlen, außer dem Belgier George Simenon nur angelsächsische Autorinnen und Autoren auftauchen, ist für den Krimi-Liebhaber selbstverständlich. Der Krimi ist ein angelsächsisches Genre, auch wenn in der deutschen Literaturwissenschaft mitunter "Die Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff, "Unterm Birnbaum" von Theodor Fontane und einige andere Beispiele als Beleg für die frühzeitige Existenz einer deutschen Kriminalliteratur herangezogen werden.

Einen "deutschen Krimi" als anerkannten Zweig des internationalen Krimi-Netzwerkes gibt es erst seit knapp 30 Jahren, seit etwa 1968, als die ersten Romane von -ky, Michael Molsner und Friedhelm Werremeier erschienen. Dieser "neue deutsche Krimi", der hier absichtlich nicht mit dem gängigen Begriff "Soziokrimi" bezeichnet wird, bezog nach einer langen Zeit des reinen Nachschreibens angelsächsischer Vorbilder zum ersten Mal die deutsche Wirklichkeit in seine Geschichten ein.
Außerdem war mit den Autoren des "neuen deutschen Krimis" ein Generationswechsel unter den Krimi-Autoren verbunden - auch wenn einzelne Vertreter des "alten deutschen Krimis" wie etwa "Derrick"-Erfinder Herbert Reinecker noch bis heute weiterschreiben.
Die Autoren des neuen deutschen Krimis kamen, was ihren schreiberischen Werdegang anging, nicht von der literarischen Seite, sondern häufig vom Journalismus (wie die beiden Kriminalreporter Werremeier und Molsner) oder sie kamen aus dem Tagesgeschäft der Gebrauchsliteratur. Sie hatten Reportagen und Romanhefte geschrieben (wie -ky und Molsner) oder sie waren in der Werbung tätig gewesen (wie Irene Rodrian).
Was der neue deutsche Krimi noch zur Initialzündung brauchte, war ein Partner auf der Verlagsseite, der sich ernsthaft mit dem Genre auseinandersetzte, das gerade in den Wirtschaftswunderjahren auch häufig Zielscheibe der Schmutz- und Schundkampagnen konservativer und kirchlicher Kreise gewesen war. Diesen Partner fanden die erwähnten Autoren und danach noch viele andere in Richard K. Flesch, dem damaligen Lektor der thriller-Reihe im Rowohlt-Taschenbuch-Verlag.

Wer auch immer heute in Deutschland Krimis schreibt (und aus den alten Bundesländern stammt), bezieht sich in der einen oder anderen Weise auf diese ersten Autoren des neuen deutschen Krimis: egal ob er ihre Tradition fortsetzt oder sich daran reibt.
Das Genre hat sich inzwischen weiterentwickelt, es hat einen sogenannten Boom erlebt und stagniert heute - nach der deutschen Wiedervereinigung - auf hohem Niveau: jedes Jahr erscheinen rund 200 neue Kriminalromane von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, und jeweils rund 500 Übersetzungen, meist aus dem angelsächsischen Raum. Dazu kommen viele remakes - Neuveröffentlichungen bereits erschienener Titel, mit denen die Backlist gepflegt wird.

Kriminalromane werden von den Lesern als realistische Literatur angesehen, eine Einschätzung, die sie mit den Autoren teilen.
Kriminalromane leben zu einem großen Teil von der genauen Darstellung ihrer sozialen und geographischen Milieus. Wer Kriminalromane liest, so eine These, möchte etwas über die Welt erfahren, in der er lebt. Und wer Kriminalromane schreibt, möchte etwas von der Welt erzählen: glaubhaft, nachvollziehbar und spannend. Denn einer der Grundsätze des Genres heißt: Du sollst nicht langweilig sein.

Wie entsteht also in diesem Rahmen eine Geschichte, wie wird sie gefunden, erarbeitet und erzählt?

Das ist der Punkt, um endgültig auf die eigene Arbeit zu sprechen zu kommen. Am Anfang eines jeden Krimis, egal ob kurz oder lang, ob Hörspiel oder Roman, steht eine Geschichte und die Personen, die sie erleben. Daß die Geschichten auf der Straße liegen, ist ein ebenso gern gebrauchter Allgemeinplatz wie die Auffassung, daß man aus jeder Zeitungsmeldung über ein Verbrechen einen Krimi machen könne. Beides ist, wie alle Allgemeinplätze, nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig, es ist eben nur viel zu allgemein formuliert. Wenn man nicht einen Dokumentar- oder Reortageroman schreiben möchte - ein Genre, das sich als TRUE CRIME in den angelsächsischen Ländern großer Beliebtheit erfreut und sich hierzulande wegen anderer gesetzlicher Grundlagen nicht entwickeln kann - wenn man also die Wirklichkeit nicht journalistisch-literarisch nachgestalten möchte, so ist die Zeitungsmeldung oder der Gerichtsbericht stets nur Anreger und Kristallisationspunkt für eine Geschichte, die vom Autor entwickelt wird: zwar stets mit Blick auf die Wirklichkeit, aber nicht als ihre Blaupause.

Wie wir alle bewegen sich auch Autoren in einem Umfeld aus großen und kleinen Geschichten - dazu gehört der Klatsch und Tratsch im Treppenhaus und im Freundeskreis genauso wie die Meldung in der Zeitung, der Bericht im Fernsehen oder die große Reportage in einem Nachrichtenmagazin. In diesem ständig fließenden Strom von Geschichten gibt es immer wieder einzelne, die sich im Gedächtnis festsetzen, weil sie einen besonderen appeal haben. Einen appeal, der zum Weiterdenken anregt, einen appeal, der Neugier erzeugt. Wie etwa die Frage: Was sind das für Menschen, denen dies oder das zugestoßen ist? Wie konnten sie in diese Lage kommen oder wie sind sie mit der Situation fertiggeworden, in die sie geraten sind?
    Eine solche kleine Geschichte ist aber noch lange keine Grundlage für eine Story, geschweige denn für einen Roman. Erst einmal koppelt sich im Bewußtsein des Autors die reale, die wirkliche Geschichte der wirklichen Menschen ein Stück weit von der Wirklichkeit ab. Sie wird zu einer Idee. Zu dieser Idee, die in der nächsten Phase dann zu einem plot wird, dem Handlungsentwurf, gehören die Charaktere, von denen die Geschichte erlebt wird ebenso wie die grundlegenden erzählerischen und dramaturgischen Elemente der Präsentation. Ist es eine Geschichte, die sich als Komödie erzählen läßt? Oder ist es eine Geschichte, zu der eher die düstere Stimmung eines film noir paßt? Oder ist es eine Geschichte, die sich sowohl in der einen als auch der anderen Form erzählen ließe - und wenn ja, welche Form ist dann die, die einen als Autor am meisten reizt?
Die Form, von der man meint, daß sie dem Stoff am adäquatesten ist.

Als ich vor einigen Jahren gemeinsam mit meinem Co-Autor und Kollegen Walter Wehner die Idee für eine Geschichte um einen freien Videokameramann hatte, waren diese Punkte die ersten, die entschieden werden mußten. Von der Figur des "Videogeiers" Gonzo Gonschorek, der bis heute drei Romane und viele Kurzgeschichten bestritten hat und hoffentlich demnächst auch in einigen Hörspielen auftreten wird, gab es seinerzeit nur ein schattenhaftes Bild: das eines Menschen, der weitgehend auf sich allein gestellt für das Boulevardfernsehen arbeitet. Auslöser und Ideen-Kern für die Figur waren Kameraleute, die wir kennengelernt hatten. Also lag bei der weiteren Ausgestaltung der Figur die Orientierung an den realen Vorbildern für diese Figur nahe, allein schon, um in Dingen des Arbeitsalltages und des Milieus nicht fehlerhafte - also nicht durch die Wirklichkeit gedeckte - Beschreibungen abzuliefern. Da gab es also diese freien Kameramänner, einige jung und cool, pragmatisch, aber als Figur nach unserem Geschmack zu farblos. Es gab auch einige Originale mit extremen Lebensumständen und Lebensgeschichten, die uns schon geeigneter vorkamen.
Auf der anderen - der literarischen - Seite gab es wiederum die Entwürfe der bekannten Heldenfiguren, an denen sich jeder, der in einem Genre schreibt, wahrscheinlich (und richtigerweise) automatisch orientiert: Helden wie den einsamen und gerechten Philip Marlowe, den zynischen Sam Spade. Helden wie den Replikantenjäger Deckard aus dem „Blade Runner" und Heldentypen wie den, den Lino Ventura in vielen Kinothrillern verkörpert hat. Diese Zusammenstellung von Vorbildern entstammt ganz allein der persönlichen Vorliebe der Autoren.

Nach und nach flossen so Einzelheiten aus beiden Bereichen zusammen zum Entwurf eines Protagonisten, der uns interessant genug erschien, um im Mittelpunkt einer Shortstory zu stehen, und der auch das Potential mitbrachte, später größere Geschichten, also einen Roman, zu tragen. Viele Details formten beim Figurenpuzzle im Lauf der Zeit ein immer schärferes Bild unseres Protagonisten: ein kantiger, ruppiger Kerl von Anfang bis Mitte vierzig, beruflich ein paarmal gescheitert und wieder auf die Beine gekommen. Jemand, der für und mit seinem Job auf Kosten seines Privatlebens lebt. Ein Einzelgänger.

Jeder deutlicher die Figur Gestalt annahm, desto häufiger ergaben sich auch kleine Ansatzpunkte für Geschichten, die diese Figur möglicherweise erleben konnte, Mini-plots, manchmal auch nur Situationen, in denen sich typische Verhaltensweisen des Charakters "Gonzo" Gonschorek zeigten. Alles wiederum neue Puzzlestücke, die später ihren Platz in den Geschichten finden sollten - jeweils in der richtigen Kombination mit den anderen Elementen der jeweiligen Geschichte: den Nebenfiguren und den Milieus, dem plot und den verschiedenen Spannungsbögen.

Es war also Zeit für einen ersten Testlauf, um zu überprüfen, ob das Gedankenprodukt, das bisher nur als dreiseitiger fiktiver Lebenslauf und  in Form von zahllosen Ideenfetzen existierte, sich auch in so einer Geschichte zurechtfand, sich darin darstellen ließ. Die Teststrecke, auf die wir Gonzo Gonschorek in den nächsten beiden Jahren schickten, waren Shortstories und Erzählungen, in denen er es mit kleinen oder mittleren plots zu tun bekam und in denen sich auch der Erzählton festigte, in dem wir als Autoren von den Abenteuern unseres Helden berichten konnten. Auf dieser Teststrecke lernte die Figur sprechen, entwickelte in seinen Dialogen seinen ganz eigenen Tonfall, mit dem man die Figur wiederum ohne großen erzählerischen Bei-Text charakterisieren konnte.

Bei der Arbeit an den ersten Geschichten fügten sich zu den vorhandenen Details neue hinzu, die im Erzählfluß entstanden: Gonzos Wohnung, seine Arbeitsumgebung in der Redaktion eines regionalen Fernsehmagazines, seine Beziehung zu seiner Kamera, die er "Suzie" nannte. Es entstanden auch aus ersten beiläufigen Erwähnungen Nebenfiguren wie Gonzos Gegenpart bei der Polizei, ein Hauptkommissar der Videodokumentationseinheit, sowie auch einige Reporter und Reporterinnen, mit und für die Gonzo bei seinen ersten Auftritten arbeitete.

Bei der Arbeit an den Stories wurde auch immer wieder Nachrecherchen fällig, Informationsbeschaffung zu Themen wie Videotechnik und Redaktionsalltag, Polizeiarbeit und immer wieder Milieu- und Schauplatzüberprüfungen. Das Gebot einer realistischen Erzählung, wie sie der Krimi-Leser in der Regel von einer Geschichte erwartet, führte immer wieder zu den Fragen: Wäre der geschilderte plot in der Wirklichkeit möglich? Entsprechen die dargestellten Handlungen und Milieus den wirklichen Umständen? Wobei der Anspruch einer literarisch geschilderten Realität in unseren Augen ein anderer ist als der einer journalistischen. Während bei einer Reportage, einem Bericht, Wirklichkeit primär nach den vorgefundenen Fakten beschrieben wird, erzeugt eine fiktive Form wie eine Kriminalgeschichte ihren Eindruck von Wirklichkeit auf dem Fundament einer ganzen Reihe von nachvollziehbaren Wirklichkeitspartikeln, in denen die "erfundene" Handlung verankert wird.

So sind in den Gonzo-Geschichten Straßennamen und Stadtteile real, bekannte Örtlichkeiten wie Bahnhöfe oder Rathäuser liefern die Schauplätze der Handlung. Auf dieses "reale" Fundament wird die eigens für die Geschichte entwickelte - nennen wir sie "halbreale" Wirklichkeit gesetzt - wie beispielsweise ein privater Wachdienst im Hauptbahnhof, der in der von uns geschilderten Form nicht existiert, sich aber in seiner Struktur an realen Wachdiensten orientiert. Oder die Redaktion des Regionalmagazins und das Magazin überhaupt, für das unser Held arbeitet. Beides existiert in der Wirklichkeit nicht, ist aber nach realen Vorbildern gestaltet. So wird beim Entwickeln und Schreiben einer jeden Geschichte die Frage "Könnte es so sein?" zum Leitgedanken.

Nach den ersten Auftritten unserer Figur "Gonzo" Gonschorek in Shortstories von zehn bis zwanzig Seiten Länge war uns schnell klar, daß in der Konstruktion der Geschichten und des Charakters in der Tat auch das Potential für einen Roman steckte. In einer solchen "großen" Geschichte würde es mehr Raum zur Differenzierung des Hauptcharakters geben, mehr Raum für Milieus und Atmosphären, die in der kurzen Form stets nur angerissen werden konnten.

Zugleich stellten aber auch der erste und die folgenden "Gonzo"-Romane neue Anforderungen: Nebenfiguren, unterstützende Charaktere - wie beispielsweise Gonzos Assistentin - mußten entwickelt werden, bestehende Nebenfiguren wie Gonzos Freund bei der Polizei verlangten nach genauerer Ausgestaltung. Auf diese Art und Weise ist inzwischen in drei Romanen ein "Gonzo"-Universum aus Schauplätzen und Figuren entstanden, das in der Phantasie der Autoren gleichsam neben der Wirklichkeit existiert, ein Konglomerat aus Wirklichkeitspartikeln, Fiktion und Rechercheergebnissen, das die Grundlage für weitere Geschichten liefert und bis heute mit jeder weiteren Geschichte wächst.

Daß es ausgerechnet eine Figur aus dem Bereich der Medien war, die uns als Autoren derart faszinierte, daß wir bis heute bereits einen beträchtlichen Teil unserer Lebenszeit darauf verwendet haben, sie zu beschreiben, sie zu gestalten und von ihr zu erzählen, ist wahrscheinlich kein Zufall: So hat ein Rezensent einmal in einer Besprechung des "Geierfrühling" die Position unseres Videogeiers "Gonzo" Gonschorek mit der eines freien Schriftstellers verglichen und die These aufgestellt, sowohl der eine als auch der andere seien ständig auf der Jagd nach Geschichten, seien den gleichen medialen Verwertungsmechanismen unterworfen. So gesehen wären die Gonzo-Romane im weitesten Sinne Erzählungen über die Autoren selbst, über ihre ständige Suche nach Geschichten, ihre Aufbereitung und Vermarktung. Eine Deutung, die ich an dieser Stelle weder weiter ausführen noch kommentieren, ihr aber auch nicht widersprechen möchte.

Kein Zufall wahrscheinlich auch, daß die Leserschaft unseren Entwurf einer Figur und ihrer Geschichten mit Interesse und - wie wir hoffen - natürlich auch mit großer Spannung und Vergnügen aufgenommen hat. Was Leser an den Gonzo-Geschichten schätzen, ist wahrscheinlich zunächst einmal ein gewisses Traditionsbewußtsein in Entwurf und Erzählung. Krimi-Leser sind, wie bereits gesagt, nicht nur treue, sondern auch in Genre-Fragen sehr gebildete Leser. Sie kennen die wichtigsten Entwicklungslinien der Gattung, haben ihre Vorlieben und Abneigungen um Lauf der Zeit herausgebildet und sind ständig auf der Suche nach etwas neuem. Krimi-Leser, so ein Eindruck, der nicht nur auf persönlichen Erfahrungen beruht, sondern auch von Kollegen immer wieder bestätigt wird - sind darüberhinaus auch recht tolerant und neugierig. Sie bilden ein "fandom", eine Gemeinde von Interessierten und Informierten, eine Gemeinde von afficionados, wie der bereits einmal erwähnte Richard K. Flesch sie liebevoll genannt hat. Krimi-Leser sind darüber hinaus treue Leser, die, haben sie erst einmal einen Autor entdeckt, dessen Figuren und dessen Erzählton sie mögen - dazu neigen, möglichst alles von diesem Autor zu lesen und mit einer gesunden Mischung aus wohlwollender Zuneigung und Kritik die Entwicklung von Autor und Serie zu verfolgen.

Krimi-Serien, also Romane mit ein und derselben Hauptfigur oder dem immergleichen Grund-Ensemble an Figuren, gehören dabei seit den Anfängen im vergangenen Jahrhundert zum Standard des Genres. Krimi-Charaktere wie Sherlock Holmes und Doktor Watson, Figuren wie Hercule Poirot, Miss Marple, Philip Marlowe oder Kommissar Maigret sind so populär, daß sie zum Allgemeingut und zum Allgemeinwissen gehören. Serienabenteuer haben das Publikum gefesselt, seit es Kolportage- und Feuilletonromane gibt, serielle Abenteuer sind auch das Grundprinzip jedes Fernsehprogrammes. Die allgegenwärtige Geschichtenmaschine serialisiert sogar Geschichten, die ursprünglich von ihrem Autor oder ihrer Autorin nicht als Serie gedacht waren. Es entstehen Mini-Serien nach Romanvorlagen, Fernsehserien unter Verwendung von Romanfiguren und - quasi im Gegenzug - Romane nach Fernsehserien. Eine Serie im multimedialen Umfeld zu etablieren bedeutet heutzutage, die Gesetze und Regeln medialen Geschichtenerzählens zu beherrschen und anzuwenden und - zumindest ebenso wichtig - die Gesetzmäßigkeiten medialer Verwertungen zu kennen, sich auf dem Marktplatz der Geschichten mit seinen Angeboten richtig zu plazieren.

Je mehr das Fernsehen mit seiner sequentiellen, voranstrebenden Methode des Geschichten-Erzählens zu einem Primärmedium wird, desto deutlicher beeinflußt es mit seiner Dramaturgie die Produkte anderer Medien. Das gilt nicht nur für die aktuellen Blockbuster- und Beststelleromane vorwiegend amerikanischer Herkunft, sondern auch für die meisten deutschen Krimis (und nicht nur diese). Geschichten nach den Maßstäben des Fernsehen oder des Kinos, als nach den Gesetzen einer optischen Erzählung zu präsentieren, heißt: deutlich in Szenen denken, Handlungen in einer Abfolge von Dialogen und Aktionssequenzen entwickeln und Spannungsbögen nach den Regeln des Drei- oder Fünfakters zu gestalten. Daß die meisten Autoren des deutschen Kriminalromans damit keine Probleme haben, liegt unter anderem daran, daß viele von ihnen zumindest bi-medial, einige sogar tri-medial zu arbeiten gewohnt sind. Sie haben die Gesetze des Fernseh-Erzählens bei ihrer Sozialisiation erlernt und während ihrer beruflichen Tätigkeit perfektioniert. Kaum einer dieser Autorer wird auf Instrumente wie den "inneren Monolog", den "stream of consciesness" oder die "Rückblende" verfallen, wenn er eine Kriminalgeschichte schreibt. Statt dessen gelten die Grundsätze: schnelle Szenen, prägnante Dialoge, vorwärtsstrebende Aktion und die schlußendliche Auflösung des Konfliktes in einem showdown.

Hat eine Geschichte all diese Eigenschaften, hat sie auch einen guten Start auf dem Markt der Geschichten, auf dem Stoffe und Ideen, Entwürfe und ganze Produkte zwischen den einzelnen Medien gehandelt werden.

Spätestens nach dem Erscheinen des zweiten Gonzo-Romanes war damit auch der Moment gekommen, mit diesem Entwurf den Markplatz für Geschichten zu betreten. Das Konzept - fernsehtechnisch ausgedrückt das "Format" war ausreichend umrissen, die Grundbedingung zur Serialisierung über das Medium des gedruckten Wortes hinaus damit gegeben. Die ersten Kontakte zu den professionellen Serialisierern ließen folgerichtig dann auch nicht auf sich warten, es wurden "Rechte" gehandelt, Optionen eingeräumt und andere Autoren hinzugezogen, um die bisher veröffentlichten Stoffe adäquat in das Medium Fernsehen zu übertragen.

Neben diesen Bestrebungen einer intermedialen Serialisierung gab es auch den starken Wunsch des Buchverlages nach einer Fortsetzung der "Gonzo"-Serie im Romanbereich. Die mit den Namen von Jahreszeiten versehenen Romane - "Geierfrühling" und "Rattensommer" ließen ja bereits die Vermutung zu, daß es auch eine Geschichte über den Herbst und eine über den Winter geben würde (oder müßte). Im Hinblick auf die langen Produktionszyklen im Buch- und Medienmarkt, in dem ein Projekt im Schnitt ein bis zwei Jahre bis zur Veröffentlichung braucht, wurden zu diesem Zeitpunkt uns als Autoren bereits Verträge offeriert und Vereinbarungen angeboten, die sich auf Geschichten bezogen, die noch nicht geschrieben waren. Und es wurden, in den wenigen Fällen, in denen wir solche Vereinbarungen eingingen, bereits diese noch nicht geschriebenen Geschichten auf dem Medienmarkt offeriert und weiterverkauft - als Taschenbuchlizenz oder Fernsehoption.

Neben der Vermarktung durch den Buchverlag, auf die ein Autor wegen der Vereinbarungen im Verlagsvertrag keinen großen Einfluß hat, besteht für einen Autor selbst noch die Möglichkeit, eine Serialisierung in eigener Regie zu betreiben. Das Autorenteam Karr & Wehner versucht dies durch Kurzgeschichten mit der inzwischen etablierten "Gonzo"-Figur, die häufig auch Vorstufen von späteren Romanen sind, oder - wie im Augenblick - durch Hörspiele, mit denen dieser Charakter und dieses "Format" im Hörfunk etabliert werden können.

Wenn also - um damit auf den Titel dieser Veranstaltungsreihe zurückzukommen - von einer "Renaissance des Erzählens" zu sprechen ist, dann kann damit nur das multimediale Erzählen gemeint sein: das Einführen einer Geschichte auf dem großen Marktplatz der Geschichten.
Erzählen wir also weiterhin Geschichten: Lagerfeuergeschichten, Abenteuergeschichten, Liebesgeschichten und Kriminalgeschichten. Erfassen wir auch in Zukunft die Welt um uns herum, nehmen wir sie als groben Entwurf, als Projektionsfläche für unsere Geschichten. Verschärfen wir durch unseren erzählerischen Blick auf diese Welt die Perspektiven, versuchen wir dadurch, die Konturen herauszuarbeiten, die uns wichtig und wesentlich erscheinen.
Und - vor allem - erzählen wir die Geschichten immer so, daß sie nie langweilig sind.

Vortrag, gehalten 1998
an der Gerhard Mercator Universität Duisburg
Reihe "Poetikvorlesungen und Vorträge zum Erzählen in den 90er Jahren"

Druckveröffentlichung in:
Gerd Herholz (Hg): Experiment Wirklichkeit - Renaissance des Erzählens
Essen: Klartext  1998


Bibliographie der "Gonzo"-Stories 1993 - 1997:

-Laubenbrand, Story, In: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder ist immer der Gärtner, Dortmund, 1993
-Happy birthday, Führer!, Story, In: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder bläst die Kerzen aus, Dortmund 1993
-Scoop oder: Triumph des Willens, in: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder zieht die Turnschuh an, Dortmund 1993
-Merry Xmas, Gonzo!, in: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder packt die Rute aus, Dortmund 1993
-Ruhr-Connection oder: Die Wiege der Kohle, Story, in: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder bricht den Wanderstab, Dortmund 1994
-Das Gutachten, in: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder kommt auf Krankenschein, Dortmund 1994
-Operation Odysseus, in: -ky (Hg): Phantastische Wahrheiten über Dagobert, Berlin 1994
-Doppelblind, in: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder kommt auf sanften Pfoten, Dortmund 1995
-Schwarzland, Story, in: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder bittet zum Diktat, Dortmund 1995
-Gonzo con carne, Story, in: Eckert, Thilo (Hb): Der Rabe, Nr 24, Zürich 1995
-Borbeck-Connection, in: Ard, Leo P. (Hg) Der Mörder würgt den Motor ab, Dortmund 1996
-Operation Ludomil, in: Niemeyer, Patrick (Hg): Haffmans Krimi Jahresband 1996, München 1996
-Operation Studer, in: Ard, Leo P. (Hg): Der Mörder kennt die Satzung nicht, Dortmund 1997

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