26.11.08

Bochum, ich komm aus dir: Krimi - total abgefahren

Neue Frauen mischen den Revierkrimi auf

Von Reinhard Jahn

Kennt noch jemand Zora Zobel? Die schrille Anarcho-Braut, die Mitte der Achtziger nicht nur die Krimi-Szene in Bochum und im Revier aufmischte? Unkonventionell, feministisch und mit Dialogen, die auf den Punkt geschrieben waren von ihrer Autorin Corinna Kawaters.
Sie war Mitte der Achtziger die die Urmutter des flapsigen Zeitgeist-Krimis und ist - wahrscheinlich unbekannter Weise - die Patin von Lucie Klassen und dem Team Minck & Minck, die mit ihren neuen Bochumer Krimiheldinnen jetzt die Szene aufmischen.

Auftritt Lucie Klassen: Kaum ein Krimi-Debüt ist in der letzten Zeit mit soviel Lorbeeren überhäuft worden wie "Der 13. Brief" der Physiotherapeutin aus Bad Pyrmont. Sie lässt ihre gerade mal 20 gewordene Heldin Lila Ziegler aus dem Intercity, der sie eigentlich zum Jurastudium nach Bielefeld bringen soll, in Bochum aus dem Zug in direkt mitten ins Bermuda-Dreieck und ein Krimi-Abenteuer stolpern, das erfrischend spritzig daherkommt. Denn, gerade dem Gymnasium entronnen, findet sich Lila plötzlich aus eigenem Entschluss als undervocer-Assistentin des Privatdetektivs Ben Danner dann doch plötzlich auf der Schulbank wieder. Was, das soll Danner für einen Freund ermitteln, steckt hinter dem mysteriösen Tod der 16jährigen Schülerin Eva? Und wie ist die Teenie-Clique, in die sich Lila einschleicht, in die Sache verwickelt?

Der Ansatz erinnert an die US-Serie "Veronica Mars", die Story wird hier wie dort auf einem ebenso lockerem wie hohem Niveau erzählt. Lucie Klassen steigt mit ihren brillanten Alltagsdialogen und den schönen kleinen Szenen aus dem Teenager-Leben sofort in die Bundesliga des deutschen Krimis ein: ihr Debüt hat Klasse.
Ihren Erstling haben die Krimi-Damen Edda und Lotte Minck aus Bochum schon vor einem Jahr mit "totgepflegt" abgeliefert - jetzt folgt "abgemurkst - Maggie Abendroth und das gefährliche Fischen im Trüben".

Diese Maggie Abendroth ist eine Miss Marple auf Speed - eine "abgestürzte Medienfuzzi-Liesel aus Köln", die jetzt in Bochum gestrandet ist, wo sie bei Oma Berti als Verkaufshilfe "anner Bude" aushelfen muss.

Ganz wie die klassische Zora Zobel hat Maggie vor nichts und niemandem Respekt, aber zu allem einen ätzenden Kommentar auf der Lippe. Drei Kerle müssen in dieser rasanten Krimi-Comedy zwischen Bochum-Stiepel und Bergbau-Museum daran glauben, ehe Maggie-Dampf-in-allen-Gassen die Sache in einem schrill parodierten Hollywood-Showdown alles zu einem guten Ende bringt. Damit setzen die Fernsehprofis Minck & Minck, genau wie Lucie Klassens Erstling, einen erfrischend neuen Akzent, der den Ruhrgebietskrimi endlich aus seinem sozialromantischen Tiefschlaf reißt.

Lucie Klassen:
Der 13. Brief
grafit

Minck&Minck:
abgemurkst
Droste

Kleines Krimi-Glossar

whodunnit (who-done-it):
Der klassische Rate- und Rätselkrimi, in dem es darum geht, den Mörder gemeinsam mit dem Kommissar oder dem Laiendetektiv zu ermitteln.
Agahta Christie, Dorothy Sayers, Martha Grimes, Elizabeth George

Thriller
Aktionsorientiertes Abenteuer, meist auch mit eine gesunden Portion SEX angereichert. Ein (Super)-Held (oder eine Gruppe) muss sich mit einem groß abgelegten Verbrechen befassen.
Untergruppen:
Techno-Thriller: Spielt meist im Milieu der Militärs (Tom Clancy) und besticht durch präzise Waffenbeschreibungen
Medical-Thriller: Spielt im Krankenhaus und Arzt-Milieu, bzw in Forschungsbereichen (Gentechnologie). Oft geht es um die Bekämpfung von Epidemien, oft aber auch um verbrecherische Intrigen in Großkrankenhäusern oder im Gesundheitswesen. (Michael Palmer)
Polit-Thriller: Nachfolger der Spionage-Thrillers. Es geht im Intrigen im höchsten politischen Bereich: Machtkämpfe, Korruption. Seit der Auflösung des Ost-West-Konfliktes fehlt der Bösewicht UdSSR.


Psycho-Thriller
Oft wird aus der Perspektive des (späteren) Täters geschildert, wie es zum Verbrechen kam, wie der Täter sich der Ermittlung entziehen versucht, wie er mit der Tat zurecht kommt.
(Patricia Highsmith, Ruth Rendell/Barbara Vine)

Privatdetektiv-Roman / PI-Novel
Amerikanisch geprägte Spielart des Genres, geprägt von Chandler und Hammett: Ein privater Ermittler, der oft höhere moralische Ansprüche hat als die Polizei, ermittelt.
Chandler, Hammett, Spillane

Historischer Krimi
Wie der Name bereits sagt: Kriminalgeschichte, die in vergangener Zeit spielt. Das Spektrum reicht von der ANTIKE über das Mittelalter bis in die deutsche Nachkriegszeit.
Besondere Spielart: Klosterkrimi
Klassiker: Der Name der Rose (Umberto ECO)
Romane von Elizabeth Peters um Bruder Cadfael

Rebecca-Roman oder "Ladykrimi"
Nach dem Muster von Daphe DuMauries "Rebecca" gestaltete Romane um junge Frauen die sich in einen attraktiven, aber düsteren Mann verlieben und ihm in seine Welt folgen.Wo sie dann zu entdecken glauben, dass der Gatte sie töten möchte. Was stimmen kann - oder auch nicht.

Gangster-Roman
Minderheiten-Spielart, in der es um die Schilderung von Verbrechen und Verbrechenr in der Unterwelt geht. (Little Ceasar von W.R. Burnett, moderner Klassiker: Elmore Leonard)

Regional-Krimi
Angeblich deutsche Spielart des Krimis: Geschichten aus kleineren Städten und/oder Regionen, die viel Wert auf authentisches Lokalkolorit legen. "Köln Krimis", "Ruhrgebietskrimis". Meist Whodunnits oder Privatermittlergeschichten mir bisweilen skurrilen Helden. ("Orginale")

TV-Novel. bzw "Filmroman"
Nach Erfolgsfilmen oder erfolgreichen Fernsehserien geschriebene Romane. Bei Romanen nach Fernsehserien entweder
a) auf der Basis der Episodendrehbücher oder
b) in freier Weiterentwicklung der Serienformats und der Hauptfiguren.
Im Gegensatz dazu: Romanvorlage - hier handelt es sich um ein Buch, das verfilmt wurde.

Kriminalhörspiele / Hörbücher
Inzwischen werden sowohl inszenierte Kriminalhörspiele, die als Adaptionen von Erfolgsromanen entstanden, als auch eigens produzierte Lesungen von Büchern als "Hörbücher" bezeichnet.
a) Hörspiele sind - wie Verfilmungen - inszenierte Bearbeitungen. Sie haben Musik, mehrere Schauspieler.
Hörspiele werden von den Rundfunkanstalten produziert (Ausnahmen bestätigen die Regel) und gesendet. Zu kaufen gibt es sie nur, wenn ein Verlag sie auf CD oder Cassette veröffentlicht.
-Wo erfahre ich, wann welches Stück gesendet wird?
Die ARD-Anstalten versenden teilweise noch Hörspielbroschüren (WDR etwa, halbjährlich). Auf den Internetseiten der Anstalten gibt es immer Hörspielprogramme.
-Wo gibt es Infos über alte, bzw früher gelaufene Hörspiele?
In entsprechenden Datenbanken im Internet
http://www.hoerdat.de
http://www.hoerspiel.com
-Wie komme ich an Mitschnitte?
Bei anderen privaten Sammlern.

b) Hörbücher sind (oft eingekürzte) Romane, die vorgelesen werden - oft von bekannten Schauspielern oder bekannten Synchronstimmen
Hörbücher werden von Verlagen (meist denen, in denen das Buch erschien) hergestellt und von diesen verkauft.

red herring
Falsche Spur, die im Krimi gelegt wird, um vom echten Mörder abzulenken. Benannt nach dem Salzhering ("red Herring") der bei einer Fuchsjagd über die Fuchsspur gezogen wird, um die Spürhunde zu verwirren.

locked-room-mystery
Die höchste Perfektion des Ratekrimis: Ein Mord in einem geschlossenen Raum muss gelöst werden. Es gibt diverse Möglichkeiten der Lösung:
a) Der Raum wurde nach der Tat verschlossen (Tür/Fenster)
b) Die Tat wurde erst nach Öffnen des Raumes begangen
c) Das Opfer beging Selbstmord, aber die Spuren deuten auf Mord
d) Geheimtüren sind eigentlich verboten

hardboiled-novel
Die "harte Schule" des Krimis. Gangster- Privatdetektiv oder Polizeigeschichten, in denen es zumeist um Einzel- oder Gruppenschicksale geht, die sich in der Unterwelt behaupten.


police-procedural (Polizeiroman)
Roman, der die Ermittlungsarbeit der Polizei genau schildert. Meist steht ein Team von Polizisten im Mittelpunkt, das sich mit einem oder mehreren Fällen beschäftigen muss.
Altmeister: Ed McBain ("87. Polizeirevier")

inverted story
Die "umgedrehte Geschichte": Wir verfolgen den Täter bei der Tat und begleiten ihn, wie er die Entdeckung durch die Polizei verhindern will. Teilweise

Henning Mankell: Der Held des gehobenen Dienstes

Das Erfolgsgeheimnis von Henning Mankell:
Kommissar Wallander als Meister des Scheiterns

"Später sollte Wallander sich an den Fall als einen der schwersten und kompliziertesten seines Berufslebens erinnern" - diese Art von mysteriösem Gemurmel des Erzählers lieben Mankell-Fans - und der Autor weiß das ganz genau, denn er gibt seinen Lesern, was sie verlangen. Oder sind es nur geschickt gelegte falsche Spuren, mit denen er uns suggerieren möchte, dass das, was wir gerade lesen, bedeutungsvoller ist, als wir im ersten Moment denken?

Später, wenn der Bestseller-Hype um Super-Wallander verflogen ist, werden wir uns fragen, warum Millionen vom "Mörder ohne Gesicht" bis zu "Brandmauer" jede Zeile verschlungen haben. Was an diesem deprimierten Helden der Mittelmäßigkeit so interessant war, der sich bei eingehender Betrachtung eigentlich doch nur ein zeitgemäßer Widergänger des Stockholmer Kommissars Martin Beck erweist, dessen Fälle Maj Sjöwall und Per Wahlöö zwischen 1965 und 1977 in zehn Romanen geschildert haben. Der deutsche Martin Beck-Hype jener Zeit zeugte nicht nur den deutschen Soziokrimi, in dem Täter immer nur Opfer der Verhältnisse waren, sondern glich in seiner Heldenverehrung auch der aktuellen Mankell-Mania.

Henning Mankells depressiver Kommissar also als neuer Held der alten 68er: Kurt Wallander und Co liefern die perfekten Identifikationsmuster für die altgewordenen Rebellen. Mit Wallander haben sie vor den Umständen und der Bürokratie resigniert: Helden des gehobenen Dienstes, altgewordene Hausbesetzer, die entsetzt feststellen, dass ihr Bausparvertrag zuteilungsreif ist. Wallander zeigt ihnen, dass sie nicht allein sind: Die Ehe kaputt, die Beziehung zur Tochter problematisch, das Verhältnis zum Vater zwiespältig - da bleibt eigentlich nur noch die Flucht in den Job.

Der Held als workoholic - da liegt Mankells Wallander auf einer Linie mit anderen Krimi-Erfolgen: von den skandinavischen Superweibern Hanne Wilhelmsen (von Anne Holt) und Annika Bengtzon (von Liza Marklund) bis zu Tempe Brennan, der forensischen Anthropologin von Kathy Reichs. Wie sie ist Wallander höchst organisiert in seinem Büro-Alltag als Polizist in Ystad: er füttert die Verwaltung zuverlässig mit dem Papierkram, den sie von ihm erwartet - Pressemitteilungen,. Berichte und Protokolle - und findet sich damit ab, dass ihm andere den gleichen Papierkram auf seinen Schreibtisch schaufeln. Der Marsch durch die Institutionen ist festgefahren im Stellungskampf des Papierkrieges.

Aber wo andere Krimi-Autoren das schüttere Privatleben ihrer Helden allerdings nur als gegeben setzen, gräbt sich Mankell tiefer in Wallender ein und stößt auf die Relikte des ewigen Klassenkampfes: die entsetzte Hilflosigkeit über der Ungerechtigkeit der Gesellschaft, die Idee, dass alles irgendwie zusammenhängt und dass das Sein das Bewusstsein bestimmt.
Tief in seinem Inneren ist Wallander wahrscheinlich ein Zwangsneurotiker, genau wie sein Vater, der seit Jahrzehnten das gleiche Bild malt, und in dessen geistigen und körperlichen Verfall er immer wieder den eigenen Niedergang vorausahnt.

Aber genau so wird er geliebt: ein zweiflerischer schwedischer Bulle, der sich mit einer penetrant sozialpädagogischen Attitüde ins Leben seiner Familie und seiner Kollegen drängt, obwohl eigentlich er selbst am therapiebedürftigsten ist. Als Fallstudie in Sachen Helfersyndrom kaschiert er seine Versagensängste in endlosen Telefonaten: Gesagtes wird wieder und wieder gesagt und dann noch einmal wiederholt - genau wie der Erzähler Mankell sich nicht darauf verlässt, dass das einmal Erzählte genügt und es deshalb zur Sicherheit im nächsten Kapitel noch einmal wiederholt. Das retardierende Moment Lebensmotto und Stilprinzip und Wallander als Archetyp des sich "irgendwie" diffus unwohl fühlenden Sozialromantikers, der sein schlechtes Gewissen über die Designer-Möbel in seiner Eigentumswohnung mit Dritte-Welt-Seminaren und einem Dauerauftrag für amnesty international beruhigt.

Die Kritik und die Fans nennen das realistisch - und es ist zu befürchten, dass das leider richtig ist.

Reinhard Jahn
(Reinhard Jahn, Krimi-Kritiker und (unter H.P. Karr) Krimi-Autor. )

2.11.08

Wo steht der deutsche Krimi?

Der deutsche Krimi steht...

...zunächst einmal nicht alleine da, sondern ist der deutschsprachige Krimi. Österreich und Schweiz sind keine Anghängsel des Genres, sondern fester Bestandteil der deutschsprachigen Krimiszene. Deshalb wird es auch Zeit, daß auch einmal einen CRIMINALE in Wien oder Zürich stattfindet.

Der deutsche Krimi steht...
...ziemlich gut da, denn inzwischen werden jedes Jahr rund 200 neue deutschsprachige Krimis veröffentlicht. Die GLAUSER-Jury kann ein Lied davon singen, was es heißt, sich durch jeweils rund 150 eingereichte Titel zu kämpfen, ohne dabei von umfallenden Buchstapeln erschlagen zu werden - und am Ende einen gerechten Juryspruch zu fällen.

Der deutsche Krimi steht...
...in einer Tradition, die von den großen Angelsachsen geprägt worden ist. Conan Doyle, Christie, Sayers, Chandler und Hammett sind die Stationen einer literarischen Entwicklung, auf die sich jeder deutschsprachige Autor bezieht. Aber auch auf Friedrich Dürrenmatt und Friedrich Glauser, E.T.A. Hoffmann und Theodor Fontane.

Der deutsche Krimi steht...
...immer mit einem Bein im Grab, denn üblicherweise verschwindet ein Roman nach ein bis zwei Jahren vom Markt und wird nicht wieder aufgelegt. Als ob sich niemand für "German Crime Classics" interessieren würde.

Der deutsche Krimi steht...
...mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Da kann keiner behaupten, Kriminalromane seien eskapistische Literatur. Krimis bügeln die Widersprüche in unserer Gesellschaft nicht glatt, sondern machen sie zum Thema: Korruption, Polizeigewalt, die gesellschaftlichen Ursachen von Verbrechen - all das ist Thema das deutschsprachigen Krimis.

Der deutsche Krimi...
...steht aber auch nicht als monolithischer Block in der Landschaft. Er bietet eine Vielfalt von Spielarten: Psychothriller, Komödien, Action-Abenteuer, Milieustudien und regionale Geschichten. Seine Helden sind Polizisten, Privatschnüffler und Reporter, weibliche und männliche Spürnasen, mal aus Ambition und mal aus Notwendigkeit.

Der deutsche Krimi steht...
...mit dem Rücken zur Wand, denn als Roman muß er sich gegen die Übermacht der Fernsehkrimis behaupten. Für den Fernsehkrimi spricht nur, daß die allermeisten deutschen Seriendrehbücher auch von deutschen Autoren geschrieben werden. Gegen den Fernsehkrimi spricht, daß die Bedenkenträger in den Produktionsfirmen und Redaktionen Kriminalgeschichten nur als Vehikel sehen, um die Kernzielgruppe der Werbewirtschaft anzusprechen.

Der deutsche Krimi steht...
...in Konkurrenz zu den zahlreichen Übersetzungen von "Mysterys" und "Crime Fiction" aus anderen Sprachen, die von den Verlagskonzernen auf den deutschsprachigen Markt geworfen werden. Als ob ein deutscher Autor nicht in der Lage wäre, ebenfalls einen "Blockbuster" zu schreiben.

Der deutsche Krimi steht...
... auf Kriegsfuß mit der Kritik. Zwar hat sich die Lage in den letzten Jahren ein wenig gebessert, aber immer noch werden die meisten Neuerscheinungen in "Krimi-Ecken" oder "Buchtips" in zwei bis fünf Zeilen abgehandelt, werden wie in der Schule mit Zensuren abgeurteilt und dann offenbar sofort vom Redaktionsvolontär vom Redakteursschreibtisch geklaut, um wirklich gelesen zu werden.

Der deutsche Krimi steht also...
...auf dem Standpunkt, daß er sich nicht verstecken muß.

Autor: Reinhard Jahn