26.8.08

Martin Schüller: Verdammt lang tot

Jan Richter ist wieder da - der Held aus Martin Schüller Roman "Jazz". Vier Jahre hat er in Lissabon gelebt - lange genug, wie er meint. Als ihn der legendäre Posaunist Bob Keltner bittet, sein Kölner Sextett aus den Siebzigern noch einmal auf die Bühne zu bringen, ist das für Jan die Gelegenheit in seine Heimatstadt Köln zurückzukehren.

Doch bei dem Versuch, die alte Band wieder zusammenzubringen, stößt Jan auf die Spur eines lange zurückliegenden Todesfalls und dann schließlich auf einen Toten: Bob Keltner. Der Posaunist liegt tot ins einem Hotelzimmer und die Polizei meint, dass es nur einen gibt, der der Mörder sein kann: Jan Richter.

Martin Schüller schreibt Männerromane, und er schreibt über Männer und Musik - eine Seltenheit in der aktuellen Krimiszene. Mit "Jazz" hat er Jan Richter eingeführt, mit "King" schrieb er einen Krimi über die Zeit, die Elvis Presley in Deutschland verbrachte. Schüllers Geschichten atmen die Poesie der Einsamkeit und haben den Blues.

Martin Schüller
Verdammt lang tot
Emons Verlag

22.8.08

George D. Shuman: 18 Sekunden

Sherry Moore ist blind. Aber sie hat eine Fähigkeit, die sie zur gefragten Mitarbeiterin bei Mordermittlungen macht: wenn sie einen Toten berührt, kann sie vor ihrem inneren Auge die letzten 18 Sekunden nachfühlen, nachempfinden, die dieser Mensch vor seinem Tod wahrgenommen hat - Bilder, Eindrücke, Erinnerungen Emotionen, die geordnet werden müssen, die nicht immer direkt das Bild des Mörders zeigen, aber einen Hinweis geben, wo er zu finden sein könnte.

Detective Kelly O'Shaugnessy aus Wildwood, New Jersey, hält Sherry für genau die richtige, die ihr bei der Suche nach dem Mörder helfen kann, der es in ihrem Revier auf junge Frauen abgesehen hat.

Der heißt - das erfahren wir Leser von Anfang an - Earl Sykes und hat sich nach seiner Entlassung aus dem Taxahoma State Prison direkt nach Wildwood begeben hat, um eine Spur aus seiner Vergangenheit aufzunehmen. Eine Spur, die seine Geschichte mit der von Sherry Moore verbindet.

Mit Sherrys "übersinnlichen Fähigkeiten" kommt ein fantastisches Element und ein zusätzlicher Reiz in die traditionelle Kriminalstory, das die Anhänger des "reinen" Krimis natürlich irritiert, aber natürlich für zusätzliche Spannung sorgt.

George D. Shuman
18 Sekunden
Heyne Taschenbuchkrimi

8.8.08

John Katzenbach: Der Patient

Ganz weit hinten hier im Krimi-Archiv stehen sie noch, die Bücher, die mich vor mehr als zwanzig Jahren einen Monat lang um den Schlaf gebracht haben, weil ich sie immer erst weglegen konnte, wenn ich die letzte Seite gelesen hatte - und das war selten vor drei Uhr morgens der Fall. Mehr als zwei Dutzend Krimis haben die Meister des Psycho-Thrillers, der verdrehten Seelenstudien, geschrieben - das Autoren-Team Pierre Boileau und Thomas Narcejac. Die beiden Franzosen waren echte Könner, wenn es um darum geht, ihre Protagonisten und mich als Leser in die Zwischenzone von Wahn und Wirklichkeit zu versetzen. Ihre Stories führen mit immer neuen, cleveren Wendungen ins absolut Unerwartete. So auch in ihrem Roman VERTIGO, den Alfred Hitchcock mit James Stewart und Kim Novak verfilmte.
Und ich bin sicher, wenn Hitchcock jetzt DER PATIENT von John Katzenbach in die Hände fiele - er würde sich umgehend die Filmrechte an dieser Geschichte sichern. An der Geschichte von Dr. Frederick Starks, dem einzelgängerischen New Yorker Psychiater, der am Abend seines 53. Geburtstages im Wartezimmer seiner Praxis-Wohnung auf einem der Stühle einen ganz speziellen Glückwunschbrief findet:

Herzlichen Glückwunsch zum 53. Geburtstag, Herr Doktor.
Willkommen am ersten Tag Ihres Todes.

Nun steht man mit 53 dem Tod in der Tat näher als dem Leben, aber dass die Gratulation kein Scherz ist, sondern eine Drohung, wird Starks klar, als er weiterliest. RUMPELSTILZCHEN nennt sich die mysteriöse Figur, die da so plötzlich unseren unauffälligen, zur Trägheit neigenden Helden aus der Bahn seiner wohlgeordneten Analytiker-Existenz wirft:

Ich existiere irgendwo in Ihrer Vergangenheit.
Sie haben mein Leben zerstört. Auch wenn Sie vielleicht nicht wissen, wie und weshalb oder auch nur, wann, so ist es trotzdem der Fall. (...) Sie haben mein Leben zerstört. Und jetzt bin ich fest entschlossen, Ihres zu zerstören.

Eine Drohung, die Frederick Starks Leben in den nächsten Tagen dramatisch verändert. Er wird lernen, allem und jedem zu misstrauen - ganz besonders sich selbst und seiner Wahrnehmung. Er wird sich fragen, ob sein letzter Patient wirklich selbst vor die U-Bahn gesprungen ist, unter der er starb, oder ob er gestoßen wurde. Er wird ahnen, dass die Klage einer ehemaligen Patientin wegen sexueller Belästigung nicht zufällig gerade jetzt auf seinen Schreibtisch flattert. Und er wird dabei nie sicher sein können, ob die Menschen, mit denen er es zu tun bekommt, nicht ein Teil des Spiels sind, das sein unsichtbarer Gegner ganz allein für ihn inszeniert.

Hier also die Regeln unseres kleinen Spiels: Ab Morgen früh um sechs gebe ich Ihnen genau 15 Tage um herauszufinden, wer ich bin. Wenn Sie es schaffen, müssen Sie eine dieser kleinen Anzeigen unten auf der Titelseite der NEW YORK TIMES schalten und darin meinen Namen drucken lassen. Weiter nichts. Lassen Sie meinen Namen drucken.

Fünfzehn Tage Frist für Frederick. Fünfzehn Tage für die Suche nach RUMPELSTILZCHEN, fünfzehn Tage, die John Katzenbach als Achterbahnfahrt durch alle Stadien der Verzweiflung seines Helden: hinter jeder Ecke lauert eine Überraschung, jede vermeintliche Entdeckung führt nur zu einem neuen Rätsel, jeder Schritt führt ihn nur noch näher an den Abgrund. So souverän wie in DER PATIENT hat mich in der letzten Zeit selten ein Thriller gefesselt. Ein Page-Turner im wahrsten Sinn des Wortes, denn Rumpelstilzchen bringt Frederick Starks in eine wirklich verzweifelte Situation:

Sie werden feststellen, dass auf dem zweiten Blatt dieses Briefes 52 Namen aus Ihrer Verwandtschaft aufgelistet sind. (...) Falls Sie es nicht schaffen, die Anzeige wie oben beschrieben aufzugeben, dann bleibt Ihnen nur eine Wahl: Bringen Sie sich augenblicklich um, oder ich vernichte einen dieser unschuldigen Menschen.
Bringen Sie sich um, Herr Doktor. Springen Sie von einer Brücke. Pusten Sie sich das Hirn mit einer Pistole weg. (...) Suchen Sie sich einen passenden Balken und hängen Sie sich daran auf. Die Methode bleibt ganz Ihnen überlassen.
Doch das ist Ihre beste Chance.

Ein Mensch, der in ein Komplott gerät, von dem er nicht sagen kann, wieviel er sich davon nur einbildet und wieviel davon Wirklichkeit ist. Das ist der Stoff, aus dem auch seinerzeit Boileau und Narcejac ihre Thriller gestrickt haben, und mit der gleichen Eleganz mit der die beiden Franzosen mich seinerzeit auf die Folter spannten, hat mich jetzt John Katzenbach um den Schlaf gebracht. Deshalb ein guter Tipp: Fangen Sie nicht irgendwann nachmittags mit dem Lesen an. Sonst enden Sie so wie ich hier im Krimi-Archiv: erst um halb vier in der Nacht, mit der letzten Seite.
Autor: Reinhard Jahn

John Katzenbach:
Der Patient
(Original: The Analyst)
Knaur Taschenbuch

7.8.08

Robert Brack: Und das Meer gab seine Toten wieder

Hamburg 1932. Mit dem Schiff aus England kommt Jennifer Stevenson in die Hansestadt, Vertreterin der "International Association of Policewomen", also der Dachorganisation der Polizistinnenn. Warum sie nach Hamburg gekommen, erzählt uns Jennifer Stevenson in "Uns das Meer gab seine Toten wieder". dem neuen Roman von Robert Brack, der schon mit seiner "St. Pauli Trilogie" gezeigt hat, dass er sich sehr gut im historischen Hamburg auskennt.

Der Vorfall, den Jennifer Stevenson untersuchen soll, liegt mehr als ein halbes Jshr zurück, hat aber die Hamburger Polizei bis ins Mark erschüttert: Zwei Beamtinnen der gerade gegründeten WKP - Weiblichen Kriminalpolizei - sind nach einem Streit mit ihrer Vorgesetzten nach Pellworm gefahren und dort - nun ja: gestorben. Die Berichte widersprechen sich - lagen sie jetzt vergiftet nebeneinander am Strand, wurden sie Opfer der einsetzenden Flut und wurden sie erschossen?
Wie auch immer - der Vorfall war jdenfalls für den Polizeipräsidenten Anlass, die gerade gegründete weibliche Kripo wieder auszuflösen und deren Chefin kaltzustellen.
Der Hintergrund dieses ganzen Falles ist authentsich, bis him zu dem Tod de rbeiden Polizistinnen auf Pellworm. Robert Brack hat aus den historischen Unterlagen seine Version des Geschehen entwickelt - es ist die Geschichte der Machtkämpfe und der Infiltration, mit der die Nationalsozialisten amVorabend der Machtergreifung bereits ist Männer (und nicht Frauen!) bei der Polizei in Stellung bringen.

Knapp, präzise, spannend. Ein historischer Polizeiroman, ein kleiner zeitgeschichtlicher Thriller. Kurz: Robert Brack in Bestform.

Robert Brack:
Und das Meer gab seine Toten wieder
Ed Nautilus

Mechthild Borrmann: Morgen ist der Tag nach gestern

Feuer am Niederrhein oder:
Die Leiche im Keller

Hochsommer am Niederrhein - in dem Örtchen Elten brennt ein Sommerhaus. Ein großes Feuer - gelegt mit mehr als 50 Litern Diesel. Zwei Tote findet die Mordkommission Kleve unter Leitung von Kommissar Peter Böhm: Gustav Horstmann - einen honorigen Bürger, verdientes Mitglied der Gesellschaft, engagiert in einer sozialen Stiftung. Dazu eine unbekannte männliche Leiche. Und im Keller des ausgebrannten Hauses einen düsteren Raum, abschließbar, mit einem PC, vielen Fotos, auf denen junge Mädchen - Kinder- zu sehen sind.

Was hier geschehen ist und wer wen getötet hat - das ist eine der drei geschickt miteinander verschränkten Geschichten des Romanes: eine Ermittlungsstory aus der Mankell-Schule. Eine andere Geschichte ist die eines Vaters, der seine Lebensbeichte in das Schulheft seiner vor Jahren verschwundenen Tochter Miriam schreibt. Miriam wurde offenbar entführt, weil man sie für eine andere hielt, für ihre Freundin, Tochter einer bi-nationalen Ehe. Bestehen Zusammenhänge mit anderen Mädchen, bei denen man vermutet, dass sie von ihren Vätern in deren Heimatland entführt wurden?

Ein wenig Ruth Rendell spielt schließlich bei der Geschichte von Frank Zach in den Roman hinein, dem etwas simplen Muttersöhnchen, der als Faktotum das Sommerhaus des Toten betreut hat, und der jetzt zunehmend besorgt verfolgt, wie sich die Ermittlungen der Polizei auf ihn konzentrieren.

Die Mordkommission dreht sich lange im Kreise und auch um sich selbst - da hat ganz klar das Team des Niederrhein-Krimi-Trios Leenders/Bay/Leenders Pate gestanden - und kann am Ende dann doch noch die einzelnen Geschichten dieses soliden Krimis zusammenbringen, mit dem der Bielefelder Pendragon-Verlag seine neue Reihe mit regionalen Romanen weiter profiliert.

Mechthild Borrmann
Morgen ist der Tag nach gestern
Pendragon

Elisabeth Herrmann: Die siebte Stunde

Anwalt Joachim Vernau (bekannt aus dem Überraschungsdebüt DAS KINDERMÄDCHEN von Herrmann) in Berlin lässt sich aus finanziellen Gründen als Lehrer engagieren - er soll an der Alma-Mahler-Werfel-Schule den "Teen Court" leiten, eine Art Schüler-Gerichtsbarkeit in Verbindung mit einer Jura AG.

Die Schule ist eine Edel-Einrichtung ganz im Gegensatz zur direkt gegenüber liegenden Breitenbach-Hauptschule, die Schülerinnen in Vernaus Kurs heißen Samatha, Revanna oder Maximiliane und die Eltern lassen sich ihren Aufenthalt in der Edelbildungsanstalt einiges Kosten.

Dass etwas nicht stimmt, wird Vernau klar, als er merkt, dass man ihm etwas verheimlicht - eine Schülerin aus seinem Kurs hat Ende letzten Schuljahres Selbstmord begangen. Niemand will darüber reden, alle spielen es herunter.
Aber die Sache scheint etwas mit den seltsamen Zeichen zu tun zu haben, Vernau unter einigen Stühlen seiner Schüler im Kurs entdeckt. Ein Giftattentat auf eine weitere Schülerin und zahlreiche Hinweise führen Vernau auf die Spur: An der Schule wird ein LIVE ACTING ROLE PLAY gespielt, ein Rollenspiel, bei dem die Mitspieler für die Spielzeit in die Rollen von Monstern, Kämpfern, Kriegern, Elfen schlüpfen und schwere Kämpfe (in ihrer Phantasie) unter den Clans ausgefochten werden.

Die "Schwarze Königin", von der Vernau immer wieder hört, schient so eine Figur aus so einem Rollenspiel zu sein. Und sie scheint es darauf abgesehen habne, einen Schüler nach dem anderen aus Vernaus Kurs in den Tod zu treiben.

Das ist süffig erzählt, geschickt wird die anfängliche Heile-Welt-Atmosphäre an der Schule Stück um Stück zerstört, um dem Fall auf die Spur zu kommen und die Abgründe der Menschen zu zeigen, die in ihn involviert sind.

Elisabeth Herrmann:
Die 7. Stunde
List

2.8.08

Susanne Goga: Leo Berlin

Berlin 1922 - die Inflation beginnt, Berlin ist die Hauptstadt und zwar noch längst nicht s groß wie heute, aber doppelt so aufregend: Amüsierclubs, Bordelle, das verrufene Scheunenviertel, die sogenannten "Ringervereine", in denen die schweren Jungs sich zusammengeschlossen hatten zu einer Art Sozialkasse, die für Frau und Kinder aufkam, wenn der Mann ins Gefängnis kam.

Und natürlich die Berliner Schickeria, feine Damen, halbseidene Herren, Gigolos, Abenteurer, Gentlemen und Scharlatane. Der Wunderheiler, der in seinem "Studio" den Damen der besseren Gesellschaft mit einem weißen Pulver zu besserer Stimmung verhilft, ist eindeutig ein Scharlatan - hat ihm deshalb jemand die schwere Buddha-Statue über den Kopf geschlagen, de man neben seiner Leiche findet.

Ein Fall für Leo Wechsler, Kriminalkommissar bei der Berliner Kripo, die seinerzeit unter der Leitung eines Mannes stand, der später einen legendären Ruf erringen sollte: ERNST GENNAT, auch genannt DER DICKE.
Die Ermittlungen führen Leo Wechsler in die schicken Villen des Bürgertums und in die Absteigen des Scheunenviertels - ohne dass er zunächst verwertbare Hinweise auf den Täter finden kann. Und der Täter ist nicht untätig, wie wir schon bald erfahren, wenn die Perspektive in der Geschichte wechselt.

LEO BERLIN führt uns in eine bislang kaum beschriebene Szenerie der deutschen Geschichte - die Zeit zwischen den Kriegen, die man teilweise auch die "Goldenen Zwanziger" genannt hat.

Eine spannende Kriminalstory mit viel, viel Zeit- und Lokalkolorit aus dem Berlin der Zwanziger Jahre.

Susanne Goga:
Leo Berlin
DTV