2.7.08

Kriminalromane aus und über China

Die tote Katze umdrehen
Kriminalromane aus und über China

In Schanghai liegen acht Leichen am Ufer des Hungpu, sieben Männer und eine Frau, grässlich entstellt und zusammengekettet. Kein gewöhnlicher Fall für Kommissar Sun Piao und seinen Kollegen Yoabang von der örtlichen Polizei. Denn am Tatort stehen Männer der Staatssicherheit herum, um ihn nach Kräften zu behindern. Und der Rechtsmediziner meint, er könne, warum auch immer, die Toten nicht obduzieren. Der Student der Gynäkologie, den Piaos Kollege aus seiner Verwandtschaft für eine notdürftige Obduktion organisiert, stirbt unter seltsamen Umständen. Die Kühlhalle des Schlachthofs, in dem der Kommissar die Toten zwischenlagert, brennt ab. Piaos Polizeichef tut alles, was in seinen Kräften steht, um seinen Kommissar abzuschieben. Doch Sun Piao hat sich in den Fall verbissen. Er will "die tote Katze umdrehen", wie er seine Ermittlung umschreibt.
Zur gleichen Zeit versucht eine Amerikanerin Kontakt zu ihrem Sohn in Schanghai aufzunehmen: Barbara Hayes sucht ihren Sohn Bobby, der zuletzt im Jinjian-Hotel gewohnt hat. Doch auf einmal will ihn dort niemand mehr kennen. Barbara lässt alle ihre politischen Kontakte spielen und bricht auf nach Schanghai, wo Kommissar Sun Piao sich immer noch fragt, was es mit den Toten aus dem Fluss auf sich hat. Fünf von ihnen waren Häftlinge aus dem örtlichen Gefängnis. Gefangene, die zum Tode verurteilt waren. Gefangene, die nach den Berichten des Gefängnisses auch tatsächlich hingerichtet wurden.
Als Barbara Hayes in Schanghai eintrifft, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie Sun Piao begegnet, bis sie herausfindet, dass einer der Toten aus dem Fluss ihr Sohn war. Und dass die tote Frau bei ihm seine Freundin war - eine aus China abstammende amerikanische Kunsthändlerin.
Gemeinsam machen sich Sun Piao und Barbara Hayes auf die Suche nach der Wahrheit - steckt "nur" ein Drogenring hinter der Tat, oder geht es um Antiquitätenschmuggel? Nein, es geht um etwas viel Grausameres.
"Drachenaugen" von Andy Oakes ist ein Insiderbericht über das Leben im China des 21. Jahrhunderts, ist Stadtportrait von Schanghai und Reisebericht über Ausflüge ins Hinterland. Und vor allem: ein Bericht über Macht und Korruption im modernen China. Sein Kommissar Sun Piao ist der perfekte Held für den trockenen, und zugleich doch poetischen Blick, den Andy Oakes auf Schanghai wirft, wo er als Berater für Rüstungsprojekte zwei Jahre verbracht hat. Was man seinem Roman in jeder Zeile anmerkt - in den kleinen Geschichten, die am Rande geschehen und den genauen Beobachtungen der chinesischen Mentalität.

Mit den "Drachenaugen" hat Andy Oakes für China das gleiche geschafft, was Martin Cruz-Smith mit "Gorky Park" für die damalige Sowjetunion geleistet hat: sich als Westler in die Mentalität eines anderen Landes hineinzuversetzen und die Atmosphäre des Fremden als Hintergrund für eine Crime Story zu verwenden.

Aber wie sieht es mit der Kriminalliteratur in China selbst aus? Gibt es Kriminalromane in China?
Literatur unterliegt in China der Zensur. Während der Kulturrevolution (1966 bis 1976) wurde nur Propagandaliteratur veröffentlicht, erst nach Maos Tod (1976) wurde die Zensur etwas gelockert. Und nach dem Massaker auf dem "Platz des himmlischen Friedens" (1989) wieder verschärft.

Die Niederschlagung der Demokratiebewegung veranlasste unter anderem den Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Autor Qiu Xiaolong, von einem Auslandsaufenthalt nicht mehr nach China zurückzukehren. Er lebt seither in den USA und hat mit seinen beiden Kriminalromanen "Tod einer roten Heldin" (2000 dt) und "Die Frau mit dem roten Herzen" (2002 dt) das Leben in Schanghai beschrieben, in dem sein Held, Inspektor Chen Cao, ermittelt: Die Welt zwischen Kulturrevolution, Kommunismus und Kommerz.

Qiu Xiaolong ist damit einer der wenigen Autoren aus China selbst, deren Krimis wir hier zu Lande lesen können. Von ihm erfahren wir, dass ein Handy in China "Großer Bruder" heißt, und, wenn es einer Frau gehört: "Große Schwester". Sein dichtender Inspektor Chen Cao bringt dem Leser chinesische Lyrik nahe, und natürlich auch so landestypische Weisheiten wie: „Schlangenblut regt die Durchblutung an. Schlangengalle kann Schleim lösen und verbessert das Sehvermögen." Und neben seinem Dienst bei der Krimipolizei befasst sich Inspektor Chen Cao mit Kriminalliteratur - er übersetzt ausländische Krimis ins Chinsische - da gleicht er seinem Erfinder: Qiu Xiaoling hat unter anderem Raymond Chandler ins Chinesische übersetzt.
Einheimische sowie westliche Literatur und Kriminalliteratur wird in China unter strenger Aufsicht veröffentlicht.
Private Verlage sind offiziell nicht erlaubt, ausländische Verlage oder Agenturen dürfen in China nicht selbstständig arbeiten. Auch joint-ventures zwischen chinesischen und ausländischen Partnern sind nicht erlaubt, dennoch gibt es in einer Grauzone die Möglichkeit der Zusammenarbeit. Während Lizenzverkäufe deutscher Literatur nach China auf Platz 1 der Liste der Auslandsverkäufe stehen, gibt es bislang kaum eine nennenswerte Zahl von chinesischen Lizenzen, die in den deutschen Sprachraum verkauft werden. Experten meinen zwar ein "gesteigertes Interesse des Publikums" ans chinesischer Literatur zu erkennen, aber um sie hier zu lange durchzusetzen bedarf es wohl doch - ganz china-mäßig - noch eines "langen Marsches".

Der "klassische" chinesische Detektiv, den wir kennen, ist "Richter Di", der von dem gebürtigen Niederländer Robert van Gulik bekannt gemacht wurde.
Van Gulik, geboren 1910, wuchs in Indonesien auf, wo sein Vater als Arzt arbeitete, später studierte er asiatisches Recht und verschiedene asiatische Sprachen und arbeitete als Diplomat unter anderem in Japan, Ägypten, Indien, China und den USA. 1949 übersetzte er den Jahrhunderte alten chinesischen Detektivroman "Dee Goong An" (andere Schreibweise: Di Gung An), in dessen Mittelpunkt "Richter Di" steht.
Der Erfolg dieser Übersetzung war so groß, dass van Gulik begann, selbst weitere Romane um und mit "Richter Di" zu schreiben - insgesamt kamen so bis zu seinem Tod 1967 mehr als ein Dutzend "Richter Di"-Bücher zusammen.

Im "Originalbuch" - "Die merkwürdigen Kriminalfälle des Richter Di" führen uns drei Geschichten vor, wie "Richter Di" im China der Tang-Dynastie (581 bis 907) nicht mit den klassischen Methoden eines Detektivs, sondern auch mit so unkonventionellen Methoden wie Folter Kriminalfälle löst. Als Bezirksrichter ist Di nicht nur Ermittler, Staatsanwalt und Richter, dessen Urteil nur bei einer Todesstrafe von einer übergeordneten Instanz geprüft werden - eine Machtfülle, die nicht nur jeder zeitgenössischen rechtsstaatlichen Auffassung widerspricht, sondern auch einigen Grundgegebenheiten des Krimis. In „Doppelmord im Morgengrauen" geht es um einen Mord aus Habsucht im Milieu der Seidenhändler und, Geschäftemacher, die von der Seidenstraße leben. „Die fremde Leiche" spielt im dörflichen Milieu und „Die vergiftete Braut" schließlich in der damaligen Oberschicht.

Zu den aktuellen Autoren, die sich mit China befassen gehört unter anderem Eliot Pattison, ein amerikanischer Journalist, der sich mit China und der tibetanischen Kultur befasst und von dem bisher vier Titel auf Deutsch erschienen:
Der fremde Tibeter (2000), Das Auge von Tibet (2001). "Das Tibetanische Orakel (2002) und um vergangenem Jahr "Der verlorene Sohn von Tibet"
Im Mittelpunkt steht stets sein Held Shan, ein Ermittler, der seinen Vorgesetzten in Peking hätte gefährlich werden können und deshalb ins Gefängnis gesteckt wurde. Hier wird er - im ersten Roman - vom Direktor dazu bestimmt, einen Toten zu identifizieren und ein paar Ermittlungen zu führen. Das ist der Beginn von Shans zweiter Karriere. Als er wegen seines Ermittlungserfolges freigelassen wird, beschließt er, in Tibet zu bleiben und in ein Kloster zu gehen.



Grenzfall Hongkong

Seit der Rückgabe der britischen Kronkolonie Hongkong an Rotchina (1989) ist des westlich beeinflusste Hongkong ein Sonderverwaltungsgebiet unter chinesischer Souveränität.

Mit seinem britischen Gepräge und den chinesischen Ambiente bot Hongkong lange Zeit einen gern benutzten Hintergrund für Unterhaltungsliteratur - und besonders auch Kriminalromane - und dem Leser damit eine Schlüssellochperspektive für den Blick ins Reich der Mitte. Wobei in den - natürlich - von westlichen Autoren verfassten Geschichten die Rolle des Gegners, des Bösewichts, die Position des Fremden, gern mit Chinesen besetzt wurde.
Im britisch geprägten Hongkong spielt über große Teile der Spionage-Klassiker "Eine Art Held" (The Honourable Schoolboy, 1977) von John le Carré: Jerry Westerby ist einer der Agenten des legendären britischen Geheimdienstchefs George Smiley. Westerby wird als Journalist getarnt nach Hongkong geschickt, um dort sie Spur von Smileys altem Gegenspieler "Karla" aufzunehmen.

Die Übergabe Hongkong bildet den Hintergrund von Christine Gräns Roman "Hongkong 1997" ´(erschienen 1991), spielt - fiktiv - ein halbes Jahr vor der Übernahme durch China. Plötzlich geschehen merkwürdige Dinge in Politik und Kriminalität.

Zu den besten Kriminalromanen, die in Hongkong spielen, gehören die Geschichten um die Mannschaft des Polizeireviers "Yellowthread Street". Marshall, geboren 1944 in Sydney, hat lange Jahre in Hongkong gelebt und konnte daher den Schauplatz seiner absurd-komischen Polizeigeschichten sehr dicht beschreiben. Im Yellowthread-Revier tut eine bunt gemischte Mannschaft aus Briten, Chinesen, Malaien und Eurasierern Dienst. In "Hongkong Roadshow" (1985) sucht die Truppe etwa nach einem Attentäter, die Straßen in die Luft sprengt, um einen Verkehrskollaps in Hongkong anzurichten.

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