5.3.08

Henner Kotte: Titelhelden

Nicht nur Kriminelle zieht es an ihre Tatorte zurück, auch ich vom Krimi-Archiv schaue schon mal nach, was es neues von Autoren gibt, über die ich einmal geschrieben habe und wie sie ihre Geschichten weiterentwickelt haben. Deswegen geht es heute zurück in den deutschen Osten, zurück zu Henner Kotte, dessen Krimi "Abriss Leipzig" ich vor ein paar Monaten hier vorgestellt habe. In seinem aktuellen Roman "Titelhelden" traf ich sie alle wieder, die Männer und Frauen der MORD ZWO der Leipziger Kripo: die Kommissare Lars Kohlund und Thorst Schmitt und ihre Kollegin Agnes Schabowski, samt Sekretärin Manuela Hoffmann und ihrem geschmeidigen Chef Miersch. Aber im Mittelpunkt steht natürlich auch diesmal wieder Leipzig - manchmal mit spitzer Ironie, aber meist mit tiefer Liebe zur Heimat gezeichneter Lebensraum irgendwo zwischen sozialistischer Stadtruine und Boomtown Ost.

Diesmal nähert sich Henner Kotte der Stadt und dem neuen Fall der MORD ZWO vom Rand - von einer Ausfallstraße her, an der die Tankstelle von Bernd Kretschmann liegt.

Kurz nach halb sieben morgens war der Anruf erfolgt. Eine aufgeregte Frauenstimme meldete: Mord. Der Chef ist tot. Bernd Kretschmann ist erschossen worden. Die Kollegen des Reviers Nord waren innerhalb von Minuten vor Ort, sie hatten es bis dorthin keine zweihundert Meter. Sie gaben die Meldung sofort weiter: Leiche. Männlich. Alter 60, 55, eher älter. Nach Aussagen der Angestellten und Familienangehörigen: Bernd Kretschmann. Tankstellenbetreiber. Der Tote sitzt hinterm Steuer eines Wagens. VW. Metallicgrün. (...) Alles voller Blut. Die Rettung konnte nichts machen. Zeugen haben drei Schüsse gehört. Bitten um sofortiges Erscheinen der Mordkommission.

Als vielseitig interessierter Staats- und Stadtbürger weiß Kommissar Kohlund natürlich sofort, dass Bernd Kretschmann nicht nur irgendein Tankstellenbesitzer war, sondern auch Kandidat der Rechtspopulisten bei den Kommunalwahlen. Einer, der die "Deutschland den Deutschen"-Ideologie seiner Partei auch für den Mittelstand akzeptabel machte, schließlich hat er in seinem "Team Kretschmann" Arbeitsplätze geschaffen, natürlich "nur für Deutsche".
Wenn so einer brutal erschossen wird, liegt es schon nahe, den Täter im entgegensetzten politischen Lager zu vermuten. Etwa bei einer der antifaschistischen Gruppen wie der, in der Kommissar Kohlunds Sohn sich umtut. Da wird die Mordermittlung streckenweise zur Familiensache. Genau wie bei Kohlunds Kollegen Thorst Schmitt. Der wird beim ersten Verhör der Kassiererin des "Team Kretschmann" vollkommen aus der Bahn geworfen.

"Ich bin von der Kriminalpolizei. Ich hätte gern von Ihnen gewusst, was Sie beobachtet haben. (...) Ihr Name?"
"Bitte?"
"Wie Sie heißen!"
"Zehn Jahre sind schon eine lange Zeit, wenn man einander nicht sieht, wenn der Vater die Familie verlässt, zahlt und ihm alles andre egal ist. Ich heiße Annika, Annika Schmitt. Ich bin deine Tochter oder bestehen Sie auf dem Sie, Herr Polizist?"

Zum Familiendrama wird das Schicksal der Familie Kretschmann - nämlich zur auflagenträchtigen Titelstory der Lokalpresse. Dort strickt Skandalreporter Joseph Hönig, ein alter Bekannter bei den Ermittlern der MORD ZWO, an der herzergreifenden Story von der tapferen Witwe des Mordopfers:
Sprecher:
"Änne K. sieht man den Schock an. Sie kann es nicht fassen. Mitten aus dem Leben hat man ihr den Gatten weggenommen. Sie hatten Pläne. Nun muss sie allein das TEAM KRETSCHMANN weiterführen. "Ich werde es schaffen", sagt sie. Eine starke Frau!" (S 97)

Und weil eine gute Story auch immer ein Feindbild braucht, schießt sich der Journalist zielsicher auf Kommissar Kohlund und seine Kollegen ein:

"Die ersten Pannen bei der Ermittlung geschahen am Tatort. Ein wichtiger Zeuge konnte fliehen. Angestellte wurden bedrängt. Aussagen nicht aufgezeichnet. (...) Für unsere Fragen stand die Polizei nicht zur Verfügung. (...) Haben Bernd Kretschmanns politische Gegner ihrem Hass und der Gewalt freien Lauf gelassen?"

Die privaten Verstrickungen der Ermittler, die politischen Implikationen des Falles - das sind die Themen, die Henner Kotte auch diesmal wieder zu einer dichten Geschichte verwebt, eingebettet in das Biotop Leipzigs. Es zahlt sich aus, dass er mit dem bewährten Personal seines letzten Romans an seinem Lieblingsschauplatz geblieben ist. TITELHELDEN ist die gelungene zweite Geschichte einer Serie vom Tatort Leipzig, an den ich jetzt gern noch ein drittes Mal zurückkehren möchte - allein schon, um zu sehen, ob die Herren Kohlund und Schmitt die Probleme mit ihren Kindern in den Griff bekommen.
Autor: Reinhard Jahn

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