8.2.08

John Harvey: Schrei nicht so laut

Ich muss Ihnen etwas gestehen - ich bin altmodisch. Nicht nur, weil ich die Serienmordgeschichten, die Woche für Woche stapelweise hier im Krimi-Archiv ankommen, eigentlich für ziemlich langweilig halte, sondern auch, weil ich mich mit all den Pathologen, Profilern und Forensikern anstelle der guten alten Polizisten und Detektive von früher nicht so recht anfreunden kann. Mir sind eben guten alten Helden und Autoren lieber, die es mit der Tradition halten, dass eine gute Geschichte zu allererst einmal etwas mit den Menschen zu tun hat, die sie erleben, deren Schicksal uns interessiert. So hält es John Harvey, wenn er von Frank Elder erzählt.

Frank Elder hat sich zurückgezogen, nach Cornwall. Er lebt in einem kleinen Cottage am Meer, er hat es gern einfach und ordentlich: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Er besitzt nicht einmal ein Telefon und wenn er jemandem etwas mitteilen will, schreibt er eine Postkarte.

An manchen Abenden stellte er das Radio laut, weil er den Klang von Stimmen hören wollte. Er wusste ja, dass er nicht zu antworten brauchte.

Vor allem aber liest er - all die Bücher, zu denen er nicht gekommen ist, als er noch Detective Inspector war, bei der Abteilung Schwerverbrechen, in Nottingham.

Er mochte Geschichten über das Meer, wie er feststellte. Forester, Reeman und Alexander Kent.

Frank Elder ist Mitte 50, mehr als 30 Jahre lang war er Polizist, bis er vor ein paar Jahren ausgebrannt und verbittert seinen Abschied nahm, um hier in Cornwall zur Ruhe zu kommen. Wären da nicht die Alpträume.

Die Beine des Mädchens waren bis zur Brust angezogen, die Brüste waren klein und schlaff, der Hüftknochen ragte durch die fleckige Haut. Der Gestank verpestete die Luft und drang ihm in Mund und Nase. Die eine Hälfte ihres Gesichts - des Gesichts eines Mädchens, einer jungen Frau von sechzehn oder vielleicht siebzehn Jahren - war fast verschwunden. Kleine, tiefe Bißspuren umgaben ihre Augenhöhlen.
Als Elder sich vorbeugte, schoß plötzlich ihr Arm aus ihn zu, die ausgestreckte Hand suchte nach der seinen. Griff nach ihm und ließ ihn nicht mehr los.

Verdrängte, alte Fälle, Schatten der Vergangenheit, die ihn einholen, ein- zweimal die Woche, nie öfter. Aber immer sind es die gleichen Bilder, mit denen ihn sein Unterbewusstsein an seine Vergangenheit erinnert, an erfolgreich abgeschlossene Fälle wie den von Shane Donald, den er vor 14 Jahren zusammen mit seinem Komplizen wegen einer Vergewaltigungs- und Mordserie an jungen Mädchen gestellt hat. Doch manchmal wird die Vergangenheit auch wieder lebendig: Das begreift Frank Elder, als er im örtlichen Pub sitzt und ihn seine ehemalige Kollegin Maureen anruft, Detective Inspector in Nottingham, Abteilung Schwerverbrechen:

"Maureen. Was gibt es?"
"Shane Donald."
"Was ist mit ihm?"
"Er wird entlassen. Auf Bewährung. Ich denke, du solltest das wissen."
"Danke Maureen."

Was mit diesem Anruf beginnt, ist eine Geschichte auf dem höchsten Niveau britischer Krimikunst. John Harvey erzählt sie ganz gelassen, in einem sanften Beat, mit dem er Frank Elder vorwärtstreibt, heraus aus seinem selbst gewählten Exil, zurück zu einem der losen Enden im Fall Shane Donald: Da ist Susan Blacklock, 16, in den Ferien von einem Campingplatz verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Aber ist sie damals wirklich Shane und seinem Komplizen in die Hände gefallen?

Er hatte Susans Eltern trotzdem versprochen, dass er sie finden würde, er hatte es geschworen, und das Vetrauen in ihren erwartungsvollen und besorgten Gesichtern war ihm Ansporn gewesen. Sein Bauchgefühl jedoch ließ ihn fürchten, dass sie schon lange tot war und nur ihre unentdeckt gebliebene Leiche immer noch darauf wartete, nach all den Jahren gefunden zu werden.

Und während Elder die alten Spuren wieder aufnimmt, auf seinem Streifzug durch die britische Mittelklasse Susans Freunde, ihre Eltern, ihre Lehrer aufsucht, zieht auch Shane Donald seine Bahnen durch Newark und Leeds, mit seinem eigenen Rhythmus, wütend und aggressiv. Irgendwann, das wissen wir, werden sich die Wege von Frank Elder und Shane Donald kreuzen. Dann findet der meisterhafte Plot sein überraschendes Ende. Danach wird Frank Elder zwar keine Alpträume mehr haben, aber es wird für ihn auch nichts mehr so sein, wie es vorher war. Und uns bleibt nichts anderes, als auf den nächsten, den zweiten Band der Frank-Elder-Serie zu warten, einen weiteren guten alten, altmodischen Krimi.
Autor: Reinhard Jahn

John Harvey
Schrei nicht so laut
(Flesh and Blood)
Deutsch von Sophie Kreutzfeldt
dtv

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